Toxic Productivity — Wenn Selbstoptimierung zur Belastung wird

Wenn es ein Wort gibt, das wohl allen Studis in den Ohren klingelt, dann ist es vermutlich der Begriff „Prokrastination“. Doch wer jetzt erwartet, in diesem Artikel Tipps zu erhalten, wie man dieses Hindernis beim Lernen überwindet, der wartet heute vergeblich. Aber vielleicht ist gerade derjenige hier sogar genau richtig?
Denn in Anbetracht des Mental Health Awareness Month geht es heute nicht um das Überwinden von Prokrastination, sondern darum, was passiert, wenn das ständige Streben nach Produktivität und einem höchstmöglichen Level von Motivation ungesunde Züge annimmt.

Der Mensch strebt nach Perfektion und das in allen Lebensbereichen. Vom Nachjagen unerreichbarer Schönheitsideale über penibles Kalorien- und Nährstoffzählen für die optimale Ernährung bis hin zum Wunsch nach einem „instagrammable“ Leben in Reichtum, fehlerfreien Beziehungen und stetem Glücklichsein. Da ist es kein Wunder, dass auch im Bereich von Schule, Uni und Job der Anspruch besteht, die eigene Arbeit zu optimieren und dabei Faulheit oder den Hang zur Prokrastination (welche allzu oft miteinander verwechselt werden) durch produktivitätssteigernde Maßnahmen ein für allemal zu besiegen.

Auf der Suche nach der Lösung stößt man vor allem in den sozialen Netzwerken schnell auf vielversprechenden Content. Auf YouTube sollen sogenannte „study with me“-Videos dazu animieren, diszipliniert und konzentriert zu lernen, auf Instagram finden sich Motivationszitate und Tipps zu Produktivitätssteigerung und Zeitmanagement und TikTok fließt förmlich über mit den Videos der sogenannten „That Girl“- und „Hustle Culture“-Bewegungen, die einen makellosen, durchgetakteten Lifestyle abbilden.

Schnell wird jedoch deutlich, dass diese hübschen Bilder eine bloße Scheinwelt abbilden, die in der Realität unerreichbar ist. Schließlich ist kein Mensch immer glücklich und kein Mensch schafft es, seinen Tag auf die Minute genau durchzuplanen, ohne dabei durchzudrehen.
Doch müssen wir überhaupt immer unser Bestes geben, so produktiv sein, wie nur möglich?  Ist Prokrastination ein peinlicher Makel, der ausradiert werden muss? Die Wissenschaft sagt: nein! Prokrastination ist etwas völlig normales, das jeder Mensch in irgendeinem Lebensbereich erlebt; der Eine schiebt den unliebsamen Arzttermin vor sich her, der Andere den Wohnungsputz und viele eben auch den Lernstoff für die nächste Uniklausur. Das Aufschieben wird erst zu einem echten Problem, wenn es so außer Kontrolle gerät, dass es ernsthafte Folgen für dein Leben hat. Zum Beispiel, weil du Gefahr läufst, deinen Studienplatz zu verlieren. In einem solchen Fall wendest du dich am besten an die Psychologische Beratungsstelle der Uni Bremen, die dir weiterhilft.

Lässt man sich zu sehr in den Sog des Productivity-Trends auf Social Media ziehen, gibt es insbesondere zwei Möglichkeiten, die problematische Folgen haben können:

Wer keine Zeit mehr für Freizeitaktivitäten und Selbstfürsorge findet, sollte dringend kürzer treten

Entweder, man versucht, mit den extremen Ansprüchen Schritt zu halten und rutscht immer weiter ab in einen karriere- oder unizentrierten Lebensstil, der keinen Platz lässt für Hobbys, Freunde und Familie. Die Folge sind meist großer Stress, sowohl psychisch als auch physisch, und im schlimmsten Falle sogar Burnout. In diesem Fall solltet ihr euch unbedingt professionelle Hilfe suchen!

Auf Einige hat übermäßiger Produktivitätscontent in den sozialen Medien einen anderen Effekt; sie fühlen sich durch solche Beiträge nicht motiviert oder inspiriert, sondern bekommen vielmehr das Gefühl, im Vergleich faul, undiszipliniert und schlecht organisiert zu sein — und das führt zu einem enormen Druck. Dies gilt vor allem dann, wenn der „study content“ ins Extreme geht; zum Beispiel im Falle von „Study With Me“-Videos auf YouTube, die in Echtzeit zeigen, wie jemand zehn Stunden lang am perfekt aufgeräumten Schreibtisch lernt und die Arbeit für nur wenige kurze Pausen unterbricht. Das Gleiche gilt für „Motivationszitate“ auf Instagram, die vor allem ein schlechtes Gewissen machen, wie „just get up and stop being lazy“. Der Druck, der auf diese Weise entsteht, äußert sich nicht selten in einer Steigerung des Aufschiebeverhaltens. Ein Effekt, der überraschenderweise unter Perfektionisten und Personen mit Versagensängsten weit verbreitet ist. Doch es steckt durchaus eine gewisse Logik dahinter; aus der Sorge heraus, man könne diesen Standard sowieso nie erreichen und wäre unzufrieden mit der eigenen Arbeit, macht man diese lieber gar nicht und schiebt sie vor sich her. Hier findet sich auch eine enge Verbindung zu dem ersten Thema der letzten Woche, dem sogenannten „Impostor-Syndrome“. Dieses Gefühl ist unter Aufschiebeprofis besonders verbreitet. Logisch, wenn der Algorithmus im Internet uns mit oben genannten Bildern regelrecht bombardiert. Im Vergleich kommt man sich dabei schnell vor, als habe man die eigenen Erfolge nicht verdient — schließlich macht man ja viel weniger! Ein Teufelskreis, dem man nur mühsam entkommt, ist man einmal hineingeraten.

Was ist also die Lösung?

Eine pauschale Antwort gibt es natürlich nicht. Jeder ist auf eine andere Art zu motivieren, jeder prokrastiniert unterschiedlich stark und jeder fühlt sich unterschiedlich schnell gestesst. Dies zu verinnerlichen ist der erste Schritt, um zu erkennen, dass der Vergleich mit fremden Menschen in Social Media-Beiträgen sinnlos ist. Hinzu kommt, dass diese Postings niemals die Realität abbilden können und immer nur bewusst gewählte Ausschnitte aus dem Leben des Teilenden zeigen. In einem gewissen Maße können die Inhalte zwar als Inspiration dienen — wenn sie jedoch anstatt zu Motivation zu Stress, Schuldgefühlen oder anderen negativen Empfindungen führen, sollte lieber Abstand genommen werden. Auch hier macht also die Dosis das Gift.
Vor allem sollte jeder für sich wissen, wann die eigene Belastungsgrenze erreicht ist. Sich selbst, seine Hobbys und sozialen Beziehungen zu pflegen, ist nicht weniger wichtig, als das Studium oder der Job, ganz im Gegenteil. Es braucht einen Ausgleich, um die Freude am Arbeiten zu erhalten. Und wenn etwas Spaß macht, ist meist auch das Resultat besser.

In diesem Sinne: ich werde mir nun einen Kaffee machen, mich gemütlich aufs Sofa kuscheln und meine Lieblingsserie anschmeißen. Die Uni darf heute einmal Pause machen. Und um meinen Hang zum Aufschieben kann ich mich schließlich auch morgen noch kümmern.

2 Kommentare
  1. BAS Business And Science GmbH
    BAS Business And Science GmbH sagte:

    Der Artikel beleuchtet sehr gut die Schattenseiten einer Kultur, die ständige Leistung und Effizienz fordert. Oftmals führt dieser Druck dazu, dass Menschen ihre persönliche Gesundheit und ihr Wohlbefinden opfern, um den Erwartungen gerecht zu werden. Dabei ist es entscheidend zu erkennen, dass unsere Produktivität nicht zwangsläufig unser persönlicher Wert ist und dass es wichtig ist, auch Raum für Erholung und Entspannung zu lassen. Insbesondere beim Studium ist eine gute Effizienz nötig, um dem Körper zugleich auch genügend Erholung und Entspannung zu bieten. Die Effizienz kann bei Erstsemester-Studierenden gesteigert werden, wenn viele wissenschaftliche Begriffe schnell und einfach erklärt werden. Genau das findet man in einem umfangreichen Beitrag https://business-and-science.de/lernen/.
    Vielen Dank an die Autorinnen und Autoren des Blogbeitrags für das Aufgreifen dieses wichtigen Themas.

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  1. […] für Probleme eine solche Arbeitsbelastung mit sich bringen kann, haben wir kürzlich in diesem Artikel ausführlich erläutert. Umso problematischer wird es also, wenn zu der hohen Arbeitslast […]

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