Blaue Impulsivität
Endlich. Euphorie. Euphorie rast durch meinen Körper. Alle Gänge durchgeschaut und da steht es. Die Energie zieht mich sofort in eine Richtung. Aus der Ferne erkenne ich die ausdrucksstarke Farbe. Blau. Tausend Bedeutungen. Beruhigung. Ruhe. Tiefe. Die Farbe vermittelt mir Sicherheit und wirkt harmonisch. Ich muss dahin. Meine Beine tragen mich wie von selbst in dieses kleine Abteil voller kleiner Glaskästchen. Mich überrumpelt die Vielfalt von Skulpturen, Formen und Farben. Das Blau beruhigt mich wieder. Da ist es. Mein Fokus liegt nun nur noch auf der kleinen Skulptur. Blau. Das Gesicht: wütend, angestrengt, fast schon aggressiv. Ich bin verwirrt. Der Gegensatz meiner ersten Wahrnehmung und dem detaillierten Gesicht überfordert mich. So viele Details. Ich muss erstmal um die ganze Skulptur gehen und versuche sie auf mich wirken zu lassen. Das Blau beruhigt mich. Es fängt an zu glänzen. Das Licht legt sich wie feiner Glitzer auf die blaue Skulptur. Mir fallen immer mehr die markanten Gesichtsstrukturen auf. Um so länger ich es mir anschaue, umso mehr Angst macht es mir. Ausdrucksstärke. Leid. Aggression. Enttäuschung. Die Skulptur, die die Gesellschaft als männlich betiteln würde sitzt angespannt und in sich selbst verknotet dort und starrt aufgebracht in eine Richtung. Die Augenbrauen sind angespannt, der Mund ist angespannt, die Mundwinkel gehen offensichtlich nach unten, die Wangenknochen sind so markant, dass ich mich schon fast bedroht fühle. Er ist gefangen. Gefangen in einem Glaskasten neben anderen Skulpturen, die sich genauso unwohl fühlen wie er. Kein Ausbruch möglich. Trotzdem trägt er diese beruhigende und ausdrucksstarke Farbe. Blau. Das Meer. Der Himmel. Freiheit. Genau das ist er nicht: Frei. Will er es sein? Oder ist er Froh dort eingesperrt zu sein, um andere nicht zu bedrohen oder noch mehr Angst zu verbreiten? Er ist auch nur einer von Vielen. Mindestens acht Glaskästen neben ihm, die dasselbe Schicksal haben, wie er. Gefangenschaft. Gefangen in seinem Kasten. In seiner eigenen Welt. Ruhe.
Die vollkommene Farbe. Dunklere und hellere Farben nur durch die Einwirkung des Lichts. Selbst besitzt er keine anderen Töne. Sein ganzer Kopf ist in eine Richtung gedreht. In die Richtung der anderen Skulpturen. Mit seiner Hand in seinen Haaren versucht er seinen Kopf in eine andere Richtung zu ziehen. Stark aggressiv. Er möchte nicht in diese Richtung schauen. Zwingt sich woanders seinen Blick hinzuwerfen. Keine andere Möglichkeit. Er muss. Verschränkungen in seinen Beinen. Schneidersitz. Eine meditative Haltung, jedoch wirkt er sonst so unruhig. Seine Zehen hat er auch angespannt und gekrümmt. Ihm gefällt es nicht. Bin ich selbst immer noch so euphorisch wie am Anfang?
Beobachtung. Wird er von den anderen Mitbewohnern beobachtet?
Sonder. Die Realisation, dass jeder ein genauso komplexes Leben, mit genauso vielen Gedanken, Gefühlen, Emotionen und Geschichten hat, wie du selbst. Bewusst wurde es mir auch, als ich den Raum mit den Glaskästen betreten habe. Alle auf ihrer eigenen Art besonders, aussagekräftig und bedeutend. Jeder hat seine eigene Geschichte. Wie auch Ich. Und Du. Und du dort drüben auch. Wir vergessen, dass jeder sein eigenes komplexes Leben hat, und fokussieren uns nur auf unsere Gedanken und Emotionen. Vergessen damit andere.
Ist das genau das, was er will? Andere Emotionen vergessen und ausblenden, um vielleicht auch niemanden zu verletzten. Verständlich. Eingekehrt in seine eigene Welt. Wo er niemanden angreifen kann. Aber auch keine Chance eine Bindung aufzubauen. Sympathisieren nur durch Beobachtung. Keine Stimme. Keine Worte. Keine Berührung.
Trist. Langweilig. Aber genau richtig. Ich kann mir gut vorstellen, was er fühlt.
Ich verlasse den Raum. Die Energie verlässt mich. Ich verabschiede mich. So viele Emotionen. Auf Wiedersehen, Blaue Impulsivität.