▶︎ von Maja Kassulke, Annelie Lorber und Konstantin Schöps
Diversität am Arbeitsplatz betrifft mehr als nur das Geschlecht oder die Herkunft. Es gibt Identitäten, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind und die Menschen dennoch von anderen abgrenzen. Gerade weil nicht direkt sichtbar ist, dass sie „andersartig” sind, stellen sich Betroffene die Frage: Sag ich‘s oder sag ich‘s nicht? Denn während die Geheimhaltung psychisch belastend sein kann, bringt eine Offenlegung der eigenen Identität oft gravierende Konsequenzen mit sich.
Studierende, die eine Ausbildung belächeln. Abteilungen, die um das Ansehen der Führungskräfte wetteifern. Mitarbeitende in der Produktion, die Verwaltungsangestellte verachten. Solche Situationen kennen die meisten. Auch wenn man es nicht selbst initiiert, hat doch jeder schon einmal Vergleichbares erlebt. Menschen denken hier in Gruppen. Neben diesen eher harmlosen Szenen kommt es jedoch auch vor, dass andere Arten von Gruppen bewertet und benachteiligt werden. So können Menschen wegen ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, einer Krankheit oder ihrer Religion verurteilt werden. Das Verhalten vieler schwankt dabei zwischen unbewusster Stereotypisierung bis hin zu absichtlicher Diskriminierung.
Wie unser Denken und Handeln von Gruppenzugehörigkeit beeinflusst wird
Dieses Verhalten lässt sich durch die Theorie der sozialen Identität erklären. Die Sozialpsychologen Henri Tajfel und John Turner bauen auf Festingers Theorie des sozialen Vergleichs auf, laut der Informationen über das eigene Selbst durch den Vergleich mit anderen gewonnen werden. Die Theorie der sozialen Identität fokussiert jedoch die Macht- und Verhaltensentwicklungen innerhalb von Gruppen. Tajfel und Turner behaupten, dass Individuen sich selbst und andere weitgehend entlang sichtbarer Linien in soziale Kategorien einordnen, indem sie nach auffälligen Merkmalen wie Geschlecht, Alter oder Ethnie gehen.
Laut ihnen finden zwischenmenschliche Interaktionen meist gruppenübergreifend statt, sodass die Menschen sowohl als Individuum als auch als Mitglied einer sozialen Gruppe auftreten. Im Extremfall kann die Gruppenzugehörigkeit sogar die individuellen Merkmale einer Person übertrumpfen.
Dabei kommt es zu einem Vergleichsprozess zwischen den Gruppen. Mit diesem gehe laut Tajfel und Turner auch ein Bedürfnis einher, besser dazustehen als die andere Gruppe. Es kommt häufig zu einem sozialen Wettstreit zwischen den Gruppen und infolgedessen werden die „Anderen“ abgewertet oder sogar stigmatisiert.
Das verändert nicht nur die Art und Weise, wie Menschen andere Menschen beurteilen und miteinander umgehen, sondern auch, wie sie sich selbst sehen. Besonders am Arbeitsplatz, wo Menschen verschiedener Identitäten zusammentreffen, kann diese Art des Denkens zu Ausgrenzung, Leistungs- und Motivationsabfall und psychischen Problemen führen.
Was passiert, wenn die soziale Identität nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist
Der Mann mit Multipler Sklerose, der im Meeting zum Mitschreiben gebeten wird, aber durch seine Krankheit heute besonders zittert. Die lesbische Frau, die Elternschaftsurlaub beantragen will, aber nicht als schwanger gelesen wird. Sie alle haben eine unsichtbare soziale Identität aufgrund (chronischer) Krankheit oder sexueller Orientierung, die sie in Erklärungsnot bringen kann.
Diese Identität ergibt sich aus den Gruppen oder Kategorien, denen die Person gesellschaftlich zuzuordnen ist. Das muss jedoch nicht auf sichtbaren Merkmalen oder Verhalten basieren, wie man in den Beispielen sieht. Sind solche Hinweise nicht gegeben, wird eine Mitgliedschaft in bestimmten sozialen Identitäten angenommen. So gehen wir meist automatisch davon aus, dass unser Gegenüber heterosexuell und körperlich unbeeinträchtigt ist.
Personen, die eine unsichtbare soziale Identität haben, müssen sich bewusst dafür entscheiden, diese offenzulegen. Die soziale Identität geheim zu halten, kann durch das Gefühl “sich zu verstellen” schnell zu einer hohen psychologischen Belastung werden. Betroffene sprechen von dem Gefühl, isoliert zu sein und eine Fassade aufrechterhalten zu müssen. Auch haben sie häufig weniger Netzwerke und Zukunftschancen durch ihre Verschlossenheit und kompromittieren ihr Privatleben z. B. aufgrund von Leugnen der Lebensgefährt:innen.
Das Ausmaß, in dem sich eine Person bei der Arbeit offenbart, hat direkte Auswirkungen auf ihre Situation. So können sie völlig „in the closet“ sein und niemandem von ihrer „Andersartigkeit“ erzählen. Sie können sich aber „partially outen“ und nur einige Auserwählte einweihen, die das Geheimnis bewahren – etwa der Personalabteilung oder engen Arbeitsfreundschaften, die sie unterstützen können. Oder aber die Person offenbart sich vollkommen und erzählt die Information wahllos.
Entscheidet sich eine Person, ihre Identität offenzulegen, knüpft sie dadurch meist engere Beziehungen zu Kolleg:innen und unterstützt zusätzlich den sozialen Wandel am Arbeitsplatz. Außerdem reduziert diese Informationspreisgabe innere Konflikte betroffener Personen. Diese entstehen dadurch, dass das wahre Ich nicht mit dem Bild übereinstimmt, das sie anderen vermittelt.
Für diesen Schritt entscheiden sich allerdings wenige Personen. Meist sind es die, die generell eine offene Persönlichkeit oder wirklich enge Arbeitsfreundschaften haben. Das zeigt eine Studie von Johnson und Joshi. Sie führten 2016 eine zweiteilige Studie zur Offenlegung von Autismus-Diagnosen am Arbeitsplatz durch. Dazu wurden zunächst 30 arbeitende Erwachsene, die auf der hochfunktionalen Seite des Autismus-Spektrums liegen, und später 500 autistische Erwachsene befragt. Dabei kam heraus, dass die deutliche Mehrheit der Befragten ihre Diagnose geheim hält und selbst bei einer Offenlegung nur das allernötigste kommuniziert.
Hinter dem Maskenball: Warum viele ihre Identität am Arbeitsplatz verbergen
Die Frage, warum das so ist, lässt sich einfach beantworten: Stigmatisierung. Das Problem kennt vermutlich jede Person, deren sichtbare oder unsichtbare Identität zur Minderheit gehört. Folgen von Stigmatisierung können Stereotypisierung, Statusverlust und Diskriminierung sein. Menschen bewerten andere, die mit einem Stigma behaftet sind, negativ, unabhängig von der Wahrheit oder der Berechtigung der negativen Bewertung.
Besonders am Arbeitsplatz führt dies zu inneren Konflikten. In keiner anderen Alltagssituation kommt es zu mehr möglichen Offenbarungen – und mehr Nachteilen. Für die Studie von Johnson und Joshi ist zudem relevant, dass im Gegensatz zu Geschlecht oder sexueller Orientierung geistige Beeinträchtigungen in direktem Zusammenhang mit der Aufgabenerfüllung am Arbeitsplatz stehen.
Hauptsächlich halten autistische Personen ihre Diagnose geheim, weil nachgewiesenermaßen die persönlichen Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten durch Stigmata beeinträchtigt werden. Lieber nehmen sie das Label „introvertiert” an, als sich dem Stigma auszusetzen, sie seien mental langsam oder unhöflich. Die Angst ist zu groß, dass Aufträge, Kunden oder Reisen bewusst (nicht) verteilt werden. Zudem sorgen sich die betroffenen Personen, dass ihre Arbeit durch die HR-Abteilung stärker überwacht wird. Aber auch soziale Isolation und eine beeinträchtigte Entwicklung von Beziehungen sind Folgen, die wiederum die Vernetzung und das berufliche Fortkommen hemmen würden. Insgesamt kommt es häufig zu schlechteren Arbeitsleistungen und Schwierigkeiten bei der Einstellung oder dem Erhalt eines Arbeitsplatzes. Zusätzlich sahen viele Befragte ihre Privatsphäre als verletzt an und fühlten sich unwohl dabei, ihre Diagnose zu teilen.
Und die Moral von der Geschicht’…
… was bei anderen Menschen los ist, wissen wir nicht.
Deshalb sollten wir uns bewusst darüber sein, dass unser Gegenüber vielleicht mehr zu tragen hat als auf den ersten Blick erfassbar. Jetzt, da wir wissen, welche weitreichenden Konsequenzen das Offenlegen einer sozialen Identität haben kann, sollte niemand dazu gezwungen werden. Als Außenstehende sollten wir unser Verhalten reflektieren und von vornherein inklusiver handeln, ohne dass uns jemand darum bitten und sich dadurch outen muss. Wenn man am Arbeitsplatz ein:e Verbündete:r sein möchte, sollte man außerdem aktiv gegen stigmatisierendes und diskriminierendes Verhalten angehen, wenn man es mitbekommt.
Betroffene Arbeitnehmer:innen können zusätzliche außerbetriebliche Unterstützung in Anspruch nehmen, um geeignete Vertrauenspersonen für die Offenlegung am Arbeitsplatz zu identifizieren. Zum Beispiel können Job-Coaches beim Entscheidungsprozess zur Offenlegung helfen. Dabei können Arbeitgeber:innen durch das Anbieten geeigneter Angebote unterstützen. Auch sollte ein größeres Bewusstsein dazu in Schulungsprogramme zu Diversität integriert werden, um Betroffenen zu helfen, mit Stigmatisierung umzugehen, das Bewusstsein für das Thema bei Außenstehenden zu erweitern und Stigmatisierung sowie Diskriminierung in allen Bereichen entgegenzuwirken.
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Literatur
Clair, J. A., Beatty, J. E. & Maclean, T. I. (2005). Out of sight but not out of mind: Managing invisible social identities in the workplace. Academy of Management Review 30 (1), 78-95.
Johnson, T. D. & Joshi, A. (2016). Dark Clouds or Silver Linings? A Stigma Threat Perspective on the Implications of an Autism Diagnosis for Workplace Well-Being. Journal of Applied Psychology 10 (3), 430-449.
Tajfel, H., & Turner, J. C. (1979). An integrative theory of intergroup conflict. In: W. G. Austin & S. Worchel (Hrsg.), The Social Psychology of Intergroup Relations (S. 33–47). Brooks/Cole.
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