Travel Blog als Hausarbeit

von Magdalena Waligórska, Ulrike Huhn, Pia Zarsteck und Aline Bludau

Autorinnenfoto

Im Juni 2014 ist eine offizielle Delegation der Stadt Bremen zur Teilnahme an einer Grundsteinlegung nach Trostenec bei Minsk gereist. An diesem Ort wurden während des 2. Weltkrieges in Massenerschießungen viele Tausende Juden ermordet, unter ihnen auch Juden aus Bremen. Dank der Unterstützung verschiedener Förderer, namentlich des Vereins „Erinnern für die Zukunft“, der Stiftung „Die Schwelle“ und der Senatskanzlei der Freien Hansestadt Bremen, hatten wir die seltene Möglichkeit, die Bremer Delegation mit einer kleinen Gruppe von Studierenden zu begleiten, die im vergangenen Semester ein Modul zu jüdischer Geschichte belegt hatte.

Da die Studierenden keine Vorkenntnisse über die komplizierte politische Situation in Belarus hatten, entschieden wir, unsere Exkursion mit einem zweitägigen Workshop an der Europäischen Humanitären Universität (EHU) in Vilnius zu verbinden. Die EHU wurde 1992 in Minsk gegründet und befindet sich seit 2005 im Exil in Vilnius. Ein Treffen mit Studierenden aus Belarus und Litauen und eine Führung mit der Kuratorin des Holocaust Museums in Vilnius sollte die Studierenden auf den folgenden fünftägigen Workshop in Minsk vorbereiten. Die Gedenkveranstaltung, an der auch Präsident Lukaschenko teilnahm, sollte der interessanteste, aber auch der herausforderndste Teil der Reise werden, den zwei unserer Bremer Studentinnen, Pia Zarsteck und Aline Bludau, in Form eines Blogs dokumentiert haben.

Wir wählten das Blog-Format vordergründig, um den Studierenden die Möglichkeit zu geben, diese einmalige Erfahrung an ein größeres Publikum an der Universität und darüber hinaus weiterzugeben, aber auch, um sie mit den Schwierigkeiten dieses offensichtlich einfachen Kommunikationsmediums zu konfrontieren. Das Schreiben eines Blogs erforderte tägliche Disziplin, um Erlebtes festzuhalten, Personen zu interviewen, die Erlebnisse des Tages zu ‘verdauen’ und in einem größeren Rahmen darzustellen. Zugleich gab dies den Studierenden die Möglichkeit, ethnografische Kompetenzen (z.B. teilnehmende Beobachtung) zu entwickeln, aber auch, ihre Schlüsse dem kritischen Blick der von ihnen Porträtierten auszusetzen und mit ihnen den abschließenden Text zu diskutieren (z.B. den Workshop-Teilnehmern aus Litauen und Belarus). Die Aufgabe, ‘live’ von unserer Reise zu berichten, entpuppte sich schwieriger als gedacht, aber wir denken, dass es gleichzeitig eine sehr motivierende Erfahrung für unsere Studierenden war.

Eine der größten Herausforderungen für uns bestand darin, unsere Studierenden auf die Gefahr aufmerksam zu machen, Osteuropa (nur) aus einem exotisierenden Blickwinkel als andersartig zu sehen. Bei der Diskussion der täglichen Blog-Einträge versuchten wir die Studierenden darauf aufmerksam zu machen, dass die Sprache, in der sie über ihnen unbekannte Länder wie Belarus berichten, für die Einwohner befremdlich und sogar verletzend sein kann. Die Studierenden mussten mit der Gefahr umgehen, dass ihr Reise-Blog über ein scheinbar noch immer relativ schwer erreichbares Land in sensationsheischende Beschreibungen abdriften könnte. Unser Ziel war es daher, die Studierenden mit dieser Herausforderung zu konfrontieren und über die Stereotypen und Klischees, die sie vor der Reise hatten, nachzudenken.

Obwohl es ein besonders zeitaufwändiges Unternehmen war, da auch nach unserer Rückkehr Korrekturen, Bearbeitung und Diskussion über Blog-Eintragungen weitergeführt werden mussten, glauben wir, dass das Blog-Experiment ein Erfolg war. Nicht nur, weil es mehr Interesse für osteuropäische Geschichte und Sprache geweckt hat, sondern auch, weil es die Studierenden für das Gewicht des veröffentlichten Worts und der Verantwortung des Reporters gegenüber seinen Themen sensibilisiert hat.

Travelling HistoryInterview mit Aline Bludau und Pia Zarsteck, Autorinnen des Studienreise-Blogs „Travelling History: Remembering Bremen Jews Deported to Minsk“Welche Bilder und Vorstellungen hattet Ihr über Litauen und Belarus, als Ihr Euch für diese Exkursion angemeldet habt? Welche Erwartungen hattet Ihr?

Aline Bludau: Ich hab mich im Vorfeld vergleichsweise wenig informiert. Als Eck-Informationen hat es mir gereicht, dass es um eine Gedenkreise geht und dass der Aufenthaltsort u.a. in der letzten Diktatur in Europa sein würde, das hat mich fasziniert.

Pia Zarsteck: Von Litauen hatte ich zugegebenermaßen bis zu der Reise keine bestimmten Vorstellungen und auch über Weißrussland hatte ich bis dahin nicht groß nachgedacht. Ich kannte die Länder vom Namen her und hatte immer gehört, dass das Baltikum schön sein soll, aber eine persönliche Vorstellung hatte ich mir davon nie gemacht.
Als die Reise feststand habe ich mir mehr Gedanken über beide Länder gemacht. Dabei rückte vor allem Weißrussland in den Vordergrund. Darüber gab es ja einige Meinungen und Äußerungen, ja sogar Warnungen wie man sich zu benehmen hat, so dass es schon eine spannende Angelegenheit wurde, dorthin zu fahren.

Wie wurden diese Erwartungen während der Reise auf die Probe gestellt? Was hat Euch überrascht?

Aline Bludau: Überrascht war ich von dem sehr gut organisiertem Reiseablauf und dem vollen Programm. Wir hatten relativ wenig Zeit an den einzelnen Orten und haben durch die Programmpunkte trotzdem einen guten Eindruck sowohl von Litauen als auch von Belarus bekommen können. In Belarus haben wir beispielsweise einen Ausflug zum Schloss Mir unternommen. Die Fahrt dorthin übers Land hat uns noch ein anderes Bild gezeigt, als das, was wir in der Stadt Minsk bekommen haben.

Pia Zarsteck: Mich hat dagegen Vilnius positiv überrascht. Nicht das ich davor ein schlechtes Bild im Kopf hatte, aber dennoch war ich überrascht, wie schön die Stadt ist. Die Leute waren unglaublich offen und lieb, es gab interessante Gespräche und natürlich hat sich die Stadt auch mit ihrem sonnigsten Gesicht gezeigt. Das hat den positiven Eindruck natürlich noch verstärkt. Weißrussland hatte ich mir nicht so weit und grün vorgestellt. Ich musste spontan an Ost-Kanada denken, als wir von der litauischen Grenze nach Minsk gefahren sind. Minsk selber hat mich nicht so überzeugt. Besonders die Randgebiete sind übersät mit diesen riesigen Hochhäusern, die es gefühlt auch nur in drei verschiedenen Optiken gibt. Der Stadtkern und dessen Architektur sind dagegen wirklich schön anzusehen.

Man spricht oft von Belarus als „die letzte Diktatur Europas“, Ihr hattet die Möglichkeit während der Reise Präsident Lukaschenko aus nächster Nähe zu erleben und an einer Staatsveranstaltung teilzunehmen. Welche Eindrücke habt Ihr dabei gewonnen? Wie war es für Euch danach, darüber zu berichten?

Pia Zarsteck: Die Staatsveranstaltung und Präsident Lukaschenko zu erleben, war wirklich spannend. Ich war beeindruckt, wie viele Menschen gekommen sind – aber ich bin mir nicht sicher, wie viele davon wirklich ihren Präsidenten sehen wollten oder einfach nur durch die Schule oder ähnliches verpflichtet waren. Die sichtbare  Staatsgewalt und die Überwachung und strenge Regelung der Veranstaltung war beängstigend. Dass nach den offiziellen Reden noch Schüsse in die Luft gefeuert wurden, fand ich enorm unpassend. Gerade in Anbetracht des Anlasses der Veranstaltung und des Veranstaltungsortes, fand ich die Schüsse ironisch. Darüber zu berichten war gut, aber auch schwer. Dafür die richtigen Worte zu finden ist nicht so leicht.

Aline Bludau: Ich habe im Voraus einiges über Lukaschenko gelesen und hatte eine ungefähre Idee davon, wie die Staatsveranstaltung ablaufen würde. Wie pompös das Aufgebot von staatlicher Seite dann aber tatsächlich war, war beeindruckend. Es waren beispielsweise verhältnismäßig wenig Zivilisten anwesend, sieht man von den deutschen Reisenden ab. Darüber zu berichten und grade in Deutschland über einen Diktator zu berichten, hatte etwas Unwirkliches. Die Vorstellung, dass in Europa eine Diktatur  existiert und man davon so wenig in 27 der medialen Übertragung erfährt, verleiht dem Staat etwas mysteriöses und man hätte wahrscheinlich erst nach vielen Kontakten mit Einheimischen die Möglichkeit, hinter die Fassade zu schauen, die der Staat sich aufgebaut hat.

Was war für Euch die größte Entdeckung der Reise? Was hat Euch am meisten beeindruckt?

Pia Zarsteck: Ich fand die Verbindung zwischen Vilnius und Minsk besonders interessant. Diese war neu für mich. Zuvor wusste ich nicht, dass viele junge Menschen aus Minsk nach Vilnius kommen, weil sie dort mehr Möglichkeiten an der Universität haben. Die Geschichten der anderen Workshop-Teilnehmer*innen zu hören, gehört ebenfalls dazu.

Aline Bludau: Am beeindruckendsten fand ich Vilnius und wie schön die Stadt ist. Man hat selten die osteuropäischen Städte als Ausflugsziel im Sinn (was vermutlich häufig auch wetterbedingt ist) und sollte diese vermutlich häufiger ansteuern.

Was hat Euch die Erfahrung des Blog-Schreibens – vielleicht auch für Euer zukünftiges Studium – gegeben?

Pia Zarsteck: Vor diesem Blog über die Reise nach Litauen und Belarus habe ich noch nie einen Blog verfasst. Es hat mich dazu gebracht, ganz anders über die Reise nachzudenken und die Erlebnisse Revue passieren zu lassen. Ich habe gerne schon tagsüber Notizen gemacht – im Bus oder wo immer ich einen Moment Ruhe hatte – und habe diese abends im Hotel schon für den Blog formuliert. Dazu gehörte auch eine gewisse Recherche. Man hat eben doch nicht alles sofort wieder parat und will auch nichts falsches Schreiben. Um sich der Reise, dem Ort und den Menschen noch bewusster zu werden und darüber möglichst viel zu lernen, ist so ein Blog wirklich großartig. Eine Herausforderung war es, ihn auf Englisch zu schreiben. Ich kann es für Reisen aller Art wirklich nur empfehlen. Man setzt sich viel intensiver mit allem auseinander und erinnert sich viel länger an viel mehr.

Aline Bludau: Ich finde das Blog-Schreiben, grade im Vergleich zum wissenschaftlichen Schreiben, sehr angenehm und es tut gut, Erfahrungen und Erlebnisse freier zu formulieren. Es hat geholfen, dass wir direkt vor Ort unsere Notizen für die Blog-Einträge gemacht haben. So konnten wir gleichzeitig grade Erlebtes viel besser reflektieren und mussten diese Erfahrung dann nur noch hochladen. Wir haben uns abgewechselt und  jeder hat an einem unterschiedlichen Tag den Blog-Eintrag verfasst. Das war sehr gut, so hatte man einen Tag Pause und war am nächsten Tag wieder konzentriert bei der Sache. Ich selber bin ziemlich undiszipliniert, wenn es ums Fotos-Machen geht, den Part habe ich Pia überlassen. Ich würde jedem empfehlen so einen Blog zu nutzen um die Reise intensiver zu erleben – ähnlich einem Reise-Tagebuch.

Ich habe mich nach der Reise entschlossen einen Master einzuschlagen, der den Fokus auf die osteuropäische Geschichte legt. In Frankfurt (Oder) habe ich „Europäische Kulturgeschichte“ entdeckt, der Master kombiniert meine beiden Bachelor-Fächer  (Kulturwissenschaften und Geschichte) sehr gut und die Uni hat durch die Nähe zum Nachbarland Polen eine starke Orientierung zum östlichen Europa. Beispielsweise gibt es ein sehr gutes Polnisch-Programm, das Studierende kostenfrei nutzen können.

AUSSCHNITTE AUS DEM BLOG

Day 1 – 6th June:

Figure 1: Makeshift memorials for Vienna Jews in the Blagovshchina forest.

Fig. 1: Makeshift memorials for Vienna Jews
in the Blagovshchina forest.

In October 1941, Bremen Jews received a letter: they were to be evacuated eastwards to work, as they were said, in the reconstruction of the cities destroyed by bombings. They  had to deliver the keys to their apartments to the local police station. Every family member could only take a suitcase weighing 25 kg. It could contain clothing, bed-sheets and shoes. All their other belongings, money, valuables and possessions were taken over by the Nazi state. On the day they left Bremen, they also lost their German citizenship. 570 Jews from Bremen were deported to the ghetto in Minsk on the 18th of November 1941. Among them were 63 children. Their train needed 3 days to get to Minsk. Today we started on the same itinerary from Bremen to Minsk, as part of the Bremen delegation, to participate in the laying of the foundational stone of a Holocaust memorial in Trostenets, near Minsk, where many of the Jews from the Minsk ghetto were executed…

Day 2 – 7th June: Holocaust Museum in Vilnius

Figure 3: Holocaust Museum in Vilnius.

Fig. 3: Holocaust Museum in Vilnius.

The rather small house is filled with historical information about Jewish life in Lithuania. Every room addresses a different aspect of Jewish history: cultural and religious life, the ghettos, resistance and so on. We found it slightly overwhelming to take it all in. Interesting was, however, the history of the house itself. It used to be a meeting point of a secret Communist group and, before it  became the Jewish museum, it served as the “Museum of the Revolution”. Nothing in its history had anything to do with Judaism.

Day 3 – 8th June: President Lukashenko lays down the foundation stone of the Trostenets Memorial

Figure 2: President Lukashenko laying down the foundational stone for the Trostenets memorial.

Fig. 2: President Lukashenko laying down the foundational stone for the
Trostenets memorial.

Today was the highlight of our journey and the reason why we came here in the first place: President Alexander Lukashenko laid down the foundation stone for the future memorial of victims of fascism at the site of the former concentration camp in Trostenets. He also gave a short speech about the meaning of this memorial, which was, unfortunately, held in Russian, with no translation provided. Luckily, the few Russian speakers among us translated the main points of his speech for us: The memorial was to be a symbol of the Belarussian fight against fascism, at a time when fascist ideology was being reborn in other parts of Europe (which seemed an allusion to the troubles in Ukraine)…

Day 4 – 9th June: A glimpse into the alternative Minsk

Figure 4: Gallery “ў” in Minsk.

Fig. 4: Gallery “ў” in Minsk.

Later on we had a chance to see a concert at the gallery “ў”, which is the first private gallery for independent contemporary art in Minsk and an alternative meeting point for young, mostly oppositionally-minded people. We were lucky enough to experience a rare spectacle: Ljavon’ Vol’ski gave a short, improvised concert, totally unexpected for most of the people gathered there. The atmosphere was overwhelming, with everyone exited, and not knowing for sure if the artist was actually going to show up. When he eventually did, the crowd went wild…

Day 7 – 12th June: Last day, new friends and great experiences

Figure 5: Vilnius by night.

Fig. 5: Vilnius by night.

[In the evening] we moved on to the city centre for dinner, with Sebastian, an Austrian volunteer who currently works at the Vilna Gaon Jewish State Museum and Laura, a German girl, who is working for „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ in Minsk. We had some typical Lithuanian beer and food and exchanged our impressions about Eastern Europe. Sebastian and Laura both love their work and the interaction with Holocaust survivors and those who want to learn about their local history of that time. They both say, they didn´t expect to get so involved in their work. But seeing them how happy they are, working in places that might not be among the top students’ “to-do-lists”, made me wonder  if we shouldn´t leave our comfort zone more often and try new and maybe more extraordinary destinations.

Link zum Blog:
http://blogtest.zmml.uni-bremen.de/commemorativetravel

Über die Autorinnen:

Magdalena Waligórska ist Juniorprofessorin für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert im Institut für Geschichtswissenschaft an der Universität Bremen.

Ulrike Huhn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungstelle Osteuropa und unterrichtet osteuropäische Geschichte an der Universität Bremen.

Pia Zarsteck studierte Germanistik und Geschichte (BA) und jetzt macht sie ihr MA in Germanistik an der Universität Bremen.

Aline Bludau studierte Geschichte und Kulturwissenschaften (BA) an der Universität Bremen. Heute studiert sie Europäische Kulturgeschichte (MA) an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt Oder.

 

 

Bildnachweis:

  • Autorinnenfotos: Magdalena Waligórska (privat); Ulrike Huhn (privat); Pia Zarsteck (privat); Aline Bludau (privat)
  • Abb. 1/2/3/5: Pia Zarsteck
  • Abb. 4: Franziska Exeler

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