von Marcus Callies, Katrin Mutz und Cordula Voigts
Das ForstA-Projekt „Forschendes Studieren und Lernen mit linguistischen Daten“ leitet die Studierenden der französischen und englischen Sprachwissenschaft dazu an, schon in der Studieneingangsphase auf empirische Daten zuzugreifen oder solche selbst zu erheben und damit ihre eigenen kleinen Forschungsprojekte durchzuführen. Unterstützung dabei finden sie in der „Linguistischen Werkstatt“, einer wöchentlich stattfindenden offenen Lehrveranstaltung, die Gelegenheit gibt, die grundlegenden Arbeitstechniken und Hilfsmittel, Forschungsmethoden und Datenerhebungsverfahren kennen zu lernen.
Wie wahrscheinlich keine andere geisteswissenschaftliche Disziplin hat sich die Linguistik in den letzten 20 Jahren durch die Verfügbarkeit großer Mengen elektronisch aufbereiteter Sprachdaten und die dafür bereitgestellten Analyseinstrumente verändert. Digitalisierte Tonbeispiele, elektronische Wörterbücher und große Textkorpora geschriebener und gesprochener Sprache sind für die Beschreibung und Erforschung der großen europäischen Sprachen und ihrer Varietäten inzwischen unverzichtbar. Das ForstA-Projekt „Forschendes Studieren und Lernen mit linguistischen Daten“ hat sich zum Ziel gesetzt, den Umgang mit diesen Ressourcen und die Vermittlung der dazugehörigen Forschungsmethoden in den Basismodulen der BA-Studiengänge „English-Speaking Cultures“ und „Frankoromanistik“ zu verankern. So werden die Studierenden schon im zweiten Studiensemester dazu angeleitet, auf empirische Daten zielgerichtet zuzugreifen oder sie selbst zu erheben, aufzubereiten und zu analysieren, denn gerade durch das forschende Lernen wird der analytische und kreative Umgang mit sprachlichem Material hervorragend geschult.
So arbeiten die Studierenden in den Einführungsveranstaltungen wie „Introduction to English Linguistics“ und „Einführung in die Linguistik des Französischen“ mit linguistischen Korpora, sie erstellen Fragebögen, lernen „Linguistic Landscape“ kennen oder führen Sprachaufnahmen durch und transkribieren diese anschließend. Im Studiengang „English-Speaking Cultures“ liegt dabei ein besonderer Schwerpunkt auf der Arbeit mit Korpora – das sind große Sammlungen von Texten, die mit Hilfe spezieller Software automatisch durchsucht werden können. In projektorientierter, computergestützter Gruppenarbeit erforschen die Studierenden dabei beispielsweise die Neubildung von englischen Wörtern unter Verwendung des Wortbildungselementes -gate. Die Recherche im Oxford English Dictionary (OED) erbringt zunächst ausschließlich Substantive wie Koreagate, Oilgate und Cartergate, die einen politischen Skandal ähnlich der Watergate-Affäre aus dem Jahre 1972 beschreiben. Im Corpus of Contemporary American English (COCA) schließlich finden sich über hundert Neubildungen auf -gate, darunter auch viele recht triviale Ereignisse, wie der Nipplegate-Vorfall, als Janet Jackson 2004 durch ein Missgeschick bei einem öffentlichen Auftritt ihre rechte Brust entblößte, oder Camillagate, die Veröffentlichung von intimen Telefongesprächen zwischen Prinz Charles und seiner damaligen Geliebten.
In einer weiteren Übung im Rahmen der „Introduction to English Linguistics“ erstellen die Studierenden einen Fragebogen, mit dessen Hilfe sie herausfinden sollen, welche sprachlichen Strategien Sprecher_innen des Englischen nutzen, wenn sie ihr Gegenüber dazu bringen wollen, ihnen Komplimente zu machen (sogenanntes „Fishing for compliments“). Relevante Sprachdaten werden durch verschiedene experimentelle Frageformate generiert, zum Beispiel anhand der Konstruktion von Dialogsequenzen. Da diese Aufgabe in Kleingruppen bearbeitet wird, werden nicht nur wichtige Sach- und Methodenkompetenzen erworben, sondern auch Selbst- und Sozialkompetenzen wie Zeitmanagement, Teamfähigkeit und das Interagieren in sozial heterogenen Gruppen. In der „Einführung in die Linguistik des Französischen“ wird das empirische Arbeiten mittels des Beeching-Korpus eingeübt, eines französischen Korpus gesprochener Sprache. Da dieses nicht mit einer eigenen Benutzeroberfläche ausgestattet ist, erlernen die Studierenden die Nutzung der Konkordanz-Software „Ant Conc“, mit der im txt-Format abgelegte Korpustexte durchsucht und analysiert werden können. Es werden sodann exemplarisch Fragestellungen bearbeitet wie die nach der unterschiedlichen Distribution der Hilfsverben avoir und être im Französischen. Auf diese Weise eignen sich die Studierenden am praktischen Beispiel korpuslinguistisches Handwerkszeug an.
Im Anschluss an das Basismodul können die Studierenden der Frankoromanistik während ihres Auslandssemesters im zweiten BA-Jahr selbst französische Sprachdaten erheben. Im Rahmen der empirischen Variante der Selbststudieneinheit „Variation und Wandel des Französischen“ gibt es so die Optionen, eine Sprachaufnahme anzufertigen und zu transkribieren oder eine „Linguistic Landscape“-Fotodokumentation zu erstellen. Die Möglichkeit, individuell zu bestimmen, welcher Art die Daten sind, die erhoben und aufgearbeitet werden sollen, überlässt den Studierenden schon frühzeitig eine gewisse Forschungsfreiheit und einen kreativen Forschungsspielraum – eine Tatsache, die sich überaus motivierend auf den weiteren Verlauf des Studiums auswirkt. Daher wurde die Möglichkeit der Datenerhebung auch kürzlich auf das Modul „Kontrastive Linguistik Französisch-Deutsch“ ausgedehnt, wo jetzt ebenfalls entweder eine „Linguistic Landscape“-Dokumentation erstellt werden kann, in diesem Fall in einer französisch-deutschen Kontaktregion, oder aber anhand der Bildergeschichte „Frog where are you?“ eine französische und eine deutsche Sprachaufnahme mit Transkription.
„Linguistic Landscape“ untersucht die Verwendung von geschriebener Sprache im öffentlichen Raum mit besonderem Augenmerk auf mehrsprachigen Gesellschaften. Die von den Studierenden an ihren frankophonen Studienorten erstellten Fotos zeigen dann zum Beispiel Straßenschilder, Reklamen und Aushänge in Geschäften. Bisher sind im Studiengang „Frankoromanistik“ Dokumentationen entstanden zur Mehrsprachigkeit im Großraum Paris, zu bilingualen Straßenschildern im Elsass, zu okzitanischen Straßenschildern in Montpellier sowie zu Perpignan, hier mit Blick auf die katalanisch-französische Zweisprachigkeit. Alle erstellten „Linguistic Landscape“-Fotodokumentationen werden im Internet für Lehrund Forschungszweckezur Verfügung gestellt (s.u.).
Für die Durchführung der Gesprächsaufnahmen wurden aus Studienkontenmitteln vier qualitativ hochwertige Aufnahmegeräte angeschafft, die über das CIP-Labor an Studierende aller Fächer des FB 10 verliehen werden. Zusätzlich wurde der Computerraum mit der Transkriptionssoftware F4 ausgestattet und es wurden drei Fußpedale erworben, um den Studierenden die Möglichkeit zu eröffnen, mit professionellen Mitteln zu transkribieren. Aus den so erhobenen Sprachdaten wird eine stetig wachsende Sammlung authentischen französischen Sprachmaterials aufgebaut, die über das CIP-Labor des Fachbereiches 10 sowie über das Internet (hier allerdings aus Gründen des Datenschutzes passwortgeschützt) für die weitere Lehre und Forschung zur Verfügung gestellt wird. So werden nicht nur die Forschungsaktivitäten der Studierenden und damit die Relevanz studentischer Forschungsarbeit dokumentiert, sondern es steht darüber hinaus langfristig Datenmaterial zur Verfügung, das nach Abschluss des ForstA-Projektes weiter genutzt werden kann, sowohl als Grundlage für Seminar- und Abschlussarbeiten oder Referate als auch als Anschauungsund Analysematerial in der Lehre.
Ein weiteres Kernstück des Projektes „Forschendes Studieren und Lernen mit linguistischen Daten“ ist die „Linguistische Werkstatt“. Dieses neuartige, offene Veranstaltungsformat ermöglicht und fördert individuelles und selbstbestimmtes studentisches Lernen, indem es all jene unterstützt, die das forschende Studieren im Rahmen der linguistischen Einführungsveranstaltungen oder ihrer eigenen sprachwissenschaftlichen Forschungsprojekte erproben wollen. Die hier gebotene praktische Anleitung in der Anwendung empirischer linguistischer Methoden trägt vor allem der Heterogenität der Studierenden Rechnung. Im Sommersemester 2016 steht Cordula Voigts mittwochs von 10.00 Uhr bis 12.00 Uhr im kleinen CIP-Labor (A 3340) des Fachbereichs 10 mit Rat und Tat bei allen Fragen zur Arbeit mit linguistischen Daten zur Seite. Außerdem werden insbesondere Studierende im Auslandssemester auch per E-Mail beraten. Die „Linguistische Werkstatt“ als Lehrveranstaltung im „General Studies“- Bereich soll über die Laufzeit des ForstA- Projektes hinaus verstetigt werden.
Seit kurzem verfügt die „Linguistische Werkstatt“ auch über ihren eigenen Blog, auf dem zahlreiche nützliche Informationen und Links zu linguistischen Arbeitsmitteln zur Verfügung stehen, wie beispielsweise Listen von Korpora und Online-Wörterbüchern zu verschiedenen Sprachen, Links zu den dazu passenden Einführungstutorials und alle wichtigen Informationen zu den frankoromanistischen Selbststudieneinheiten. Darüber hinaus werden die Ergebnisse studentischer Forschungen veröffentlicht, insbesondere die im Rahmen der frankoromanistischen Selbststudieneinheiten entstandenen Gesprächstranskriptionen und Fotodokumentationen.
https://blogtest.zmml.uni-bremen.de/lingwerk/
Über die Autor_innen:
Marcus Callies ist Professor für englische Sprachwissenschaft im Studiengang English-Speaking Cultures (FB 10).
Katrin Mutz ist Senior Lecturer für romanische Sprachwissenschaft im Studiengang Frankoromanistik (FB10).
Cordula Voigts ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und koordiniert seit August 2014 das ForstA-Projekt „Forschendes Studieren und Lernen mit linguistischen Daten“ in den Studiengängen English-Speaking Cultures und Frankoromanistik (FB 10).
Bildnachweis:
- AutorInnenfoto: Marcus Callies (privat); Katrin Mutz (privat); Cordula Voigts (privat)
- Abb. 1: Jenny Bücking
- Abb. 2: Svenja Guhr
- Abb. 3: Marcus Callies, Katrin Mutz und Cordula Voigts
- Abb. 4: www.oed.com
Danke für die Auskunft. https://voicedocs.com/de kann zur automatischen Transkription von Aufzeichnungen verwendet werden.