Die Wahrnehmung von Präsenztheater aus verschiedenen Perspektiven

Autor: Sophia

Resümee

Da sich unsere Zeit mit diesem Blog ihrem Ende zuneigt, wollen wir in einem kleinen Resümee auf unsere Erfahrungen zurückblicken und betrachten, inwiefern sich unsere anfängliche Fragestellung verändert hat.

Schon zu Beginn des Semesters, nach den ersten Brainstormings, waren wir uns einig, dass wir unseren Blog gerne zur Bedeutung des Theaters, insbesondere im Hinblick auf die Corona-Pandemie, gestalten würden. An dieser Grundidee haben wir festgehalten, das Theater war der zentrale Punkt unseres Blogs.
Konkreter überlegten wir uns, dass wir gerne insbesondere zur Wahrnehmung und Bedeutung des Schauspiels in Präsenz forschen würden, vor und nach den pandemiebedingten Lockdowns.
Wir wollten sowohl mit theaterschaffenden Menschen als auch mit Theatergänger*innen in Kontakt treten und das Thema somit aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Dabei hatten wir vor, uns in erster Linie auf das „Theater Bremen“ sowie dessen Tochterprojekt, das „Junge Theater Bremen“ einzugrenzen.
Mehr zu unserem ursprünglichen Plan ist im Beitrag „Unser Thema“ nachzulesen.

Nun ist unser Blog so gut wie komplett und es ist uns möglich, Vergleiche zwischen anfänglicher Vorstellung und tatsächlichem Endergebnis zu ziehen.
Alles in allem haben wir viele der Dinge, die wir uns für den Blog vorgenommen haben, auch umgesetzt. Wir sind der Fragestellung nach der Bedeutung des Präsenztheaters nachgegangen und haben dazu unterschiedliche Mittel verwendet. So haben wir die Wahrnehmung aus der Zuschauer*innenperspektive erforscht, indem wir uns selbst in diese begeben haben und dazu Erfahrungsberichte schrieben. Eine Idee, die wir von Anfang an hatten. Durch diese Methode ist uns Beiden bewusster geworden, was das Präsenztheater für uns persönlich bedeutet und was für eine Wirkung es auf das Publikum haben kann, wenn auch nur aus einer individuellen Perspektive. Mit anderen Theatergänger*innen ins Gespräch zu kommen, hätte sicher noch weitere Blickwinkel eröffnet, die Gelegenheit hat sich jedoch nicht wirklich geboten.
Durch unser Interview mit Sabine Thöle sind wir auch mit einer Theaterschaffenden, einer Regisseurin, ins Gespräch gekommen und konnten ihre Positionen zur Thematik erfahren. Eine spannende und aufschlussreiche Erfahrung, die uns eine weitere Perspektive bot.

Anders als geplant haben wir jedoch keine Interviews innerhalb des Bremer Theaters geführt und haben insgesamt weniger Theaterkünstler*innen befragt, als wir es uns idealerweise erdacht hatten. Mit Schauspieler*innen oder Theaterjugendgruppen sind wir nicht ins Gespräch gekommen. Dies lag jedoch nicht daran, dass wir nicht versucht hätten, Kontakte zu knüpfen. Annika hat mit mehreren Ensemblemitgliedern des Bremer Theaters gesprochen, mit Sängern, Dramaturginnen, einer Regisseurin, die einem Interview gegenüber alle zunächst offen schienen und ihr Kontaktdaten nannten. Auf konkrete Anfragen reagierte jedoch schließlich keine*r von ihnen. Annika hat ihre Erfahrungen hierbei bereits in einem separaten Blogbeitrag beschrieben, der unter https://blogtest.zmml.uni-bremen.de/lampenfieber/2022/03/28/von-hoffnungs-und-enttaeuschungsmomenten-auf-der-suche-nach-interviews/ zu finden ist.
Auch ich hatte mir erhofft, dass es einfach sein würde, Interviewpartner*innen am Theater zu finden, da ich dort sogar als Aushilfe des Abendpersonals angestellt bin, jedoch hat dies den Kontakt zu den Künstler*innen nicht wirklich erleichtert, ich bewege mich einfach in anderen Arbeitskreisen und Räumlichkeiten.
Dennoch sehe ich bereits das Ansprechen von, in Annikas Fall fremden, Menschen und den Versuch des Kontakteknüpfens als Errungenschaft und denke nicht, dass wir uns hier Vorwürfe machen müssen. Mehr als fragen kann man schließlich nicht.

Auch haben wir vermutlich die Zeit, die uns zur Verfügung stand, vorerst ein wenig überschätzt. Fünf Monate hören sich erst einmal sehr viel an, mit allem anderen, was dazukommt, sind sie es aber letztlich nicht. Schon mit unseren jetzigen Beiträgen hat der Blog nicht wenig Arbeit gemacht. Noch mehr Interviews zu führen, oder gar eine gesamte Produktion zu begleiten, wie wir es uns gewünscht hatten, wäre vermutlich einfach zu viel geworden.

All diese kleinen Mängel beiseite, denke ich doch, dass wir mit unserem Blog zufrieden sein können. Denn grundsätzlich haben wir unsere Idee und unsere Thematik umgesetzt. Wir haben uns recht intensiv mit der Bedeutung des Präsenztheaters beschäftigt, haben unsere eigenen Gedanken dazu dokumentiert und konnten eine Theaterschaffende zu Wort kommen lassen. Wir haben erfahren, wie das Leben von Künstler*innen während der Lockdowns aussah und welchen Einfluss die Pandemie auf die Theaterszene hatte. Die Arbeit am Blog hat uns die Bedeutung des Bühnentheaters deutlicher vor Augen gefühlt, sowohl aus unserer eigenen als auch aus einer künstlerischen Perspektive. Und ich hoffe, dass der Blog es vermag, das auch bei den Leser*innen zu erreichen. Dann hätten wir letztlich erreicht, was wir erreichen wollten.

Bedeutung des Präsenztheaters – ein Interview mit Sabine Thöle

Sabine Thöle war, unter dem Künstlernamen Sabine Karasch, viele Jahre als Theaterregisseurin tätig. Von der Pandemie war sie aber als Theaterlehrerin, nicht als Regisseurin betroffen, weil sie 2013 ihre letzte Inszenierung hatte. Das war die letzte Regie, die sie führte. Ihre Arbeit war insofern von der Pandemie betroffen, als dass sie zu diesem Zeitpunkt Theater an Schulen unterrichtete. Als Theaterlehrerin konnte sie ein Dreivierteljahr lediglich über Zoom und nicht in Präsenz unterrichten. In Schulen gab es konkrete Regeln wie Theater unterrichtet werden kann.

 

Im langen Lockdown fand kein Präsenzunterricht statt. Sie verknüpfte szenisches Spielen mit szenischem Schreiben. Per Zoom wurden in einer „Textwerkstatt“ gemeinsam Konzepte entwickelt. Das erste Projekt war ein digitales „Bilderbuch-Märchentheater“.

Im zweiten Lockdown entwickelten die Schüler*innen ein digitales Hörspiel zum ersten Teil von „Faust“, wobei sie Szenen selbst schrieben. Als der Theaterunterricht wieder in Präsenz stattfand, gab es unterschiedliche Abstufungen. Sie unterrichtete jeweils die Hälfte der Schüler*innen in rotierendem Rhytmus. Außerdem musste eine Maske getragen und auf Sicherheitsabstände geachtet werden, wobei im Chor und Theater nicht nur anderthalb, sondern zweieinhalb Meter die Regel waren.

 

Theaterschüler*innen haben verschieden auf die digitalen Konzepte in der Corona-Zeit reagiert. Die einen sahen es als Herausforderung, die anderen fanden es „saudoof“ und wieder andere waren ganz leidenschaftslos. Da ist jeder Schüler und jede Schülerin anders.

 

Auch wenn sie selbst während der Pandemie nicht als Regisseurin tätig war, konnte Sabine Thöle uns einiges zur Situation von Theatern und Mitwirkenden berichten.

Die Situation wurde von unterschiedlichen Theatern verschieden gehandhabt. Es gab Theater, die eine Art Pause einlegten, in der bestehende Stücke „warmgehalten“ wurden. Dabei wird die Vorstellung bei einer Probe von einem Regisseur gesamtkritisch bewertet. Die Intention ist die Aufführung des Stücks „frisch zu halten“ und das Erarbeitete und die Rolleninterpretation in Erinnerung zu rufen. Wenn das Stück länger nicht gespielt wurde, werden einzelne Szenen zusätzlich geprobt. Es wird in derselben Dauer eines 6-8 monatigen Lockdowns nicht gespielt und wenn nicht bekannt ist wann der Lockdown endet, muss immer damit gerechnet werden, dass die Vorstellungen kurzfristig wieder einsetzen. Viele Theater mussten die Stücke frisch halten, um spielen zu können. Dieses Fortsetzen der Arbeit ist unter anderem so wichtig, weil viele dieser Theater staatlich subventioniert sind. Ihre Aufgabe ist es ihre kulturelle Arbeit fortzusetzen.

Andererseits gibt es Theater, die zu digitalen Formaten übergingen. Diese digitalen Formate waren zum Beispiel Livestreams oder die Aufzeichnung von Vorstellungen, die ohne Publikum gespielt wurden. Je nach unterschiedlicher Theaterform, ob privat oder subventioniert, Musiktheater oder Sprechtheater, je nach Vision der Intendant*innen wurden Vorstellungen individuell umgesetzt.

 

Thöle betont, dass die Pandemie für freischaffende Künstler*innen nicht nur eine finanzielle Belastung, sondern ein Desaster war. Künstler*innen wurden von einem Tag auf den anderen mit der Situation konfrontiert. Auch sie war betroffen. Sabine Thöle hatte viele künstlerische Lehraufträge, die nicht mehr erfüllt werden konnten. Lehraufträge funktionieren so, dass die reinen Unterrichtsstunden bezahlt werden. Es herrschte eine allgemeine Ungewissheit darüber woher und ob Gelder beantragt werden können. Teilweise haben Menschen sich Töpfe zur Altersversorgung oder Renten auszahlen lassen. Viele stießen an den Rand ihrer Existenz.

 

Es ist naheliegend, dass eine derartige Situation auch am Theater, im Ensemble zu Spannungen geführt haben könnte.

Eine psychisch belastende Situation wirkt immer auf ein Ensemble, eine Mitarbeiterschaft im Allgemeinen, so Thöle. Es besteht bei den Künstler*innen eine konkrete Arbeitssituation, Schauspieler*innen sind auch in Gewerkschaften strukturiert und es besteht eine Arbeitsstruktur in der es darum geht, dass man Dienstleister*in ist und dafür Geld bekommt. Wenn ich für meine Dienstleistung kein Geld bekomme, ist es belastend und ein Konfliktpotenzial entsteht.

Fest angestellte Schauspieler*innen sind über den Betrieb weiter bezahlt worden und viele Betriebe als Theater müssen andere Berufsgruppen wie Regisseur*innen, Bühnenbildner*innen, Kostümbildner*innen etc. engagieren, die ihr Geld ohne Aufführungen dann nicht mehr bekommen. Dadurch entstand ein „Wahnsinns“-Konfliktpotential.

 

Worin aber liegt der wesentliche Erhaltungswert und die Relevanz des Bühnentheaters? Gibt es ein Potenzial, das beispielsweise Alternativen im digitalen Raum nicht besitzen?

 

Es handelt sich hierbei um zwei völlig unterschiedliche Medien. Definiert man was Theater eigentlich ist, lässt es sich als Kommunikationsprozess bezeichnen, als ein Akt der Performativität, mit vielen unterschiedlichen Schauspiel- und Theaterformen. Ein episches Theater unterscheidet sich zum Beispiel vom Volkstheater und das nicht nur in der Wirkung auf das Publikum. Die Antwort auf die Frage lässt sich so nicht pauschalisieren.

Von Seiten der Künstlerin oder des Künstlers sei es immer schöner vor Live-Publikum zu spielen. Letztendlich ist das Besondere ja auch, dass jede Vorstellung eine andere Energie hat, eine Energie zwischen Publikum und Schauspieler*innen. Auch die persönliche Situation des Schauspielers habe Einfluss auf die Wirkung des Spiels. Mal hat Romeo einen guten Tag, mal hat Julia einen schlechten Tag, mal ist es umgekehrt. Und dann gäbe es die wunderbaren Momente, in denen Romeo und Julia beide einen guten Tag haben. Die Vorstellungen, an denen die Funken sprühen. Wenn das Publikum dann auch mitgeht, entstehen die besonderen Momente. Und das sei viel schwieriger über einen Bildschirm zu vermitteln.

Wenn man auf der anderen Seite überlegt was für digitale „Übersetzungen“ möglich wären, kann man ganz anders arbeiten. Die Inszenierung des Stücks ist von den gestalterischen Mitteln abhängig, die einem zur Verfügung stehen und da differenzieren und entfachen sich in beide Richtungen unterschiedliche Möglichkeiten.

Man muss künstlerisch andere, neue Mittel finden, um den Zuschauer, die Zuschauerin an die Hand zu nehmen, um sie zu berühren. Das lässt sich nicht pauschal beantworten.

 

Es gibt also sowohl Besonderheiten des Präsenztheaters als auch Möglichkeiten digitaler Formate. Sabine Thöle glaubt, dass sich Theater auch nur durch solche Innovationen weiterentwickeln kann. Häufig wird jegliche neue Technologie erst einmal als Beschränkung gesehen, sei es das Radio, der Fernseher oder der Computer. Doch das Spannende für Menschen mit Ideen und Visionen ist doch gerade, zu sehen, wie man sich diese Medien zunutze machen kann. An der neunmonatigen Lockdown-Situation hat man sowieso nichts ändern können und sich neuen Situationen anzunehmen, zu sehen, wie man mit ihnen umgeht, ist eben das, was Künstler*innen sowie auch Wissenschaftler*innen ausmacht. Nur so kann man auf neue Ideen kommen und nur so können wir uns als Menschen weiterentwickeln.

Es kommt die Frage auf, ob Sabine Thöle sich eigentlich als „Theaterschaffende“ bezeichnen würde. Sie bejaht, eigentlich ist sie das immer. Würde man ihr morgen eine Inszenierung an einem guten Theater, mit einem guten Stück anbieten, würde sie wahrscheinlich nicht Nein sagen. Momentan gibt es andere intellektuelle Bedürfnisse und Dinge, die sie bewegen, aber sie würde sich weiterhin als Theaterschaffende bezeichnen. Das legt man nicht einfach so ab, meint Thöle.

 

Man könnte sich nun fragen, ob eine erfahrene Regisseurin sich im Theater eigentlich noch zurücklehnen und ein Stück genießen kann, oder ob die eigene Erfahrung hinter den Kulissen das Ganze entzaubert. Sabine Thöle berichtet, dass man hier differenzieren muss. Natürlich sitzt sie immer als Theaterschaffende, mit einer Art Draufsicht in der Vorstellung und kann sich nicht einfach im Stück verlieren. Trotzdem können gewisse Inszenierungen sie noch verzaubern, wobei es darauf ankommt, wie an das Stück herangegangen wird. Es gibt immer wieder Theaterformen oder von Regisseur*innen geschaffene Momente, die sie begeistern und berühren. So ist sie beispielsweise ein großer Fan des Theaterregisseurs Michael Thalheimer, der sie immer faszinierte und inspirierte.

Dennoch ist der Theaterbesuch für Thöle keine Entspannung, keine Freizeit, abschalten kann sie dabei nicht. Wenn sie ins Theater geht, fühlt es sich beruflich an.

Gerade die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, wie hart der Alltag von Theaterkünstler*innen sein kann. Dies wirft die Frage auf, was es eigentlich ist, das sowohl Schauspieler*innen als auch Regisseur*innen wie Sabine Thöle immer wieder zurück ans Theater bringt, trotz wiederholter Enttäuschungen, Aufschiebungen und eventueller Spannungen.

Für die Schauspieler*innen kann sie hierbei nicht sprechen, betont Thöle, da es sich um unterschiedliche Berufe mit individuellen Motivationen und Erfahrungen handelt. Ist man an einem Betrieb engagiert, geht es außerdem in erster Linie darum, sein Geld zu verdienen. Es handelt sich auch einfach um einen Beruf, den man nicht zu sehr romantisieren darf. Man hat seine festen Arbeitszeiten und seinen festen Probenplan. Es ist nicht so, als würde man in den Tag hineinleben und darauf warten, dass einen der kreative Blitz trifft. Es gibt feste Aufgaben, die man zu erfüllen hat und dafür wird man bezahlt. Das ist der gänzlich unromantische Sachverhalt.

Was Sabine Thöle als kreativen Menschen immer wieder zum Theater zieht, sind die kreativen Prozesse. Ideen, die sie hat und denen sie Ausdruck verleihen muss. Mal findet dies in schriftlicher Form statt, mal durch die Umsetzung in Bilder und manchmal auch als eine Mischform aus Beidem. Diese kreative Arbeit ist es, die sie antreibt. Auch das wissenschaftlich-schriftliche Arbeiten ist für sie ein kreativer Prozess, den man nicht unterschätzen darf.

 

Auch Annika hat in verschiedenen Theatergruppen bereits Schauspielerfahrung gesammelt und kennt den Glücksmoment nach einer gelungenen Vorstellung gut, wenn auch nicht aus der beruflichen Perspektive.

Sabine Thöle bemerkt, dass die hierbei freigesetzten Endorphine dennoch die gleichen sind wie bei professionellen Produktionen und dass dieser Moment der Anerkennung für Schultheatergruppen, die monatelang an einem Stück gearbeitet haben, eigentlich noch viel besonderer ist als für professionelle Ensembles, die quasi alle sechs Wochen ein Stück „raushauen“. Nicht umsonst schwärmen Schüler*innen teilweise noch ein Leben lang von ihren Theaterproduktionen. Als Theaterlehrerin berichten Thöle häufig Menschen darüber, wie wichtig das Schultheater für sie war und welchen wesentlichen Einfluss es auf ihr Leben genommen hat.

Aber erlebt auch eine Regisseurin den euphorischen Moment nach einer Premiere? Oder blickt man in diesem Fall doch eher mit einem kritischen Blick auf das Stück? Laut Sabine Thöle kommt dies auf unterschiedliche Faktoren an. Sei es die Dynamik während des Probenprozesses, die Umsetzung des eigenen Konzepts oder die Zusammenarbeit innerhalb der Theaterinstitution. So gab es schon einige Premieren, die sie sich als Regisseurin nicht ansehen konnte, weil sie zu nervös war. Andere, bei denen sie einfach nur glücklich war, die Produktion hinter sich gebracht zu haben und einen Schlussstrich ziehen zu können. Wieder andere, bei denen sie von Glücksgefühlen erfüllt war. Allerdings gewöhnt man sich mit der Zeit auch daran. Wenn man über die Jahre hinweg regelmäßig Premieren auf die Bühne bringt, lernt man damit umzugehen und es wird letztendlich zur Profession.

 

Sabine Thöle kennt sowohl die Arbeit mit professionellen Schauspieler*innen als auch mit Schüler*innen und berichtet, dass man die Arbeitsprozesse nicht miteinander vergleichen kann. Schauspieler*innen haben schließlich jahrelang eine Technik gelernt, die weit über das Texte Lernen hinausgeht. Man kann hier also Dinge voraussetzen, an die man Schüler*innen erst einmal ganz langsam heranführen muss. Je mehr man mit Schüler*innen arbeitet, sei es an einer Schauspielschule oder in einer Oberstufe, desto mehr prägt man sie, was die Arbeit mit ihnen natürlich auch verändert. Auch macht es einen Unterschied, ob man zum Beispiel eine Theatergruppe übernimmt, die vorher eine*n gute*n Theaterlehrer*in oder eine*n weniger gute*n Theaterlehrer*in hatte. Letztlich handelt es sich einfach um ein Handwerk.

Zum Ende stellt Sabine Thöle noch einmal klar, dass es unterschiedliche Formen des Theaters gibt und wir im Rahmen des Interviews beinahe ausschließlich über das bürgerliche Theater gesprochen haben, wobei wir in der Tradition Friedrich Schillers und seiner „Schaubühne als eine moralische Anstalt“ stehen. Das Theater hat also auch immer eine Aufgabe als Ort der Aufklärung, politischer Diskussion und demokratischer Prozesse.

Aus diesem Grund ist es besonders wichtig den demokratischen Prozess der Pandemie als künstlerische Herausforderung zu verstehen.

 

Der Inhalt des Beitrages basiert auf Aussagen, die von Sabine Thöle im Interview am 04.03. 2022 getroffen wurden.

Erinnerungsprotokoll „All das Schöne“

Es ist der 16.01.2022, ein kühler, früher Winterabend. Ich stehe vor der Fronfassade des Bremer Theaters am Goetheplatz, wo ich mich soeben mit fünf meiner Kolleginnen getroffen habe. Wir haben uns verabredet, um uns gemeinsam die Schauspielproduktion „All das Schöne“ anzusehen. Jede von uns ist als Aushilfe des Abendpersonals am Theater Bremen eingestellt, weshalb wir gut mit dem Haus vertraut sind. Dennoch beeindruckt mich der Moment, als wir das Theater durch die großen Türen des Hauptportals betreten. Als Mitarbeiterin nutze ich normalerweise einen anderen, wesentlich unscheinbareren Eingang.

Nach einem kurzen Check-In stehen wir schließlich im Foyer des Theaters. Es ist circa 17.30 Uhr als, also eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn. Schon jetzt herrscht hier reges Treiben. Menschen unterschiedlichsten Alters tummeln sich auf den Gängen, steigen die Treppen auf und ab, geben ihre Garderoben ab und unterhalten sich. Während auch wir ein wenig durchs Theater laufen und uns mit einigen unserer arbeitenden Kolleginnen unterhalten, versuche ich die Atmosphäre auf mich wirken zu lassen. Ich finde, dass die Stimmung gewissermaßen aufgeladen ist, eine Art gespannte Vorfreude im Raum liegt, Vorfreude auf die Geschichte, die man sogleich auf der Bühne erleben wird. Dass es aufgrund der Pandemie noch immer Einschränkungen gibt, sodass die Zuschauerkapazität nur zur Hälfte ausgereizt werden kann und keine Gastronomie mit klassischen Sektgläschen angeboten werden kann, tut dem Feeling meiner Meinung nach keinen Abbruch.

Um 17.45 Uhr, eine Viertelstunde vor Vorstellungsbeginn, werden die Saaltüren geöffnet und die ersten Menschen beginnen, in den Theatersaal zu strömen. Wir lassen uns noch ein wenig Zeit, begeben uns aber schließlich auch zu unseren Plätzen. Auch hier greifen wieder die Corona-Maßnahmen, sodass wir nicht alle sechs nebeneinandersitzen können, sondern jeweils in Zweiergruppen. Während wir uns den Weg zu unseren Plätzen bahnen, lasse ich den Bremer Theatersaal, mit seinen hohen, architektonisch modernen Wänden, auf mich wirken. Bei einem Blick in die Reihen, stelle ich zudem erfreut fest, dass die Hälfte der Sitzplätze, die verkauft werden durfte, gut besetzt zu sein scheint.

Nun fällt mir etwas sehr Interessantes auf. Die Hauptdarstellerin des Stücks (in diesem Falle auch die einzige Darstellerin auf der Bühne) befindet sich bereits im Raum und unterhält sich ganz beiläufig mit einigen Zuschauer*innen. Ich habe von meinen Kolleginnen bereits erfahren, dass es sich bei „All das Schöne“ um ein sehr interaktives Stück handelt, so viel Interaktion bereits vor Stückbeginn überrascht mich aber doch. Als schließlich das erste Klingelzeichen ertönt, das fünf Minuten bis zum Vorstellungsbeginn ankündigt, füllt sich der Saal weiter und die Schauspielerin beginnt nun kleine Karten an das Publikum zu verteilen, auf denen jeweils eine Nummer und ein Begriff bzw. eine Wortgruppe stehen. Auch wir lassen uns eine Karte geben. Die Schauspielerin begibt sich schließlich zur leeren Bühne, auf der sich keinerlei Bühnenbild befindet, und nimmt auf deren Rand Platz. Die Vorstellung beginnt. Es wird dabei nicht wirklich dunkel im Saal, die Lichter werden lediglich gedimmt, was dafür sorgt, dass ein klarer Übergang zum Beginn des Stückes wegfällt. Die Grenzen zwischen Realität und erzählter Geschichte verschwimmen, ein Effekt, mit dem die Produktion die ganze Zeit über spielen wird.

Kurz zusammengefasst geht es in „All das Schöne“ um eine junge Frau, die als Kind den Suizidversuch ihrer Mutter miterlebte und als Reaktion darauf begann, eine Liste aller Dinge zu verfassen, die das Leben schön machen. Auch als erwachsene Frau, die nun selber mit Depressionen zu kämpfen hat, führt sie die Liste weiter und findet darin neue Kraft und Lebensfreude. „All das Schöne“ ist wohl der Inbegriff eines Theaterstückes, das nur in Präsenz funktionieren kann. Das Publikum wird nicht nur in das Stück eingebunden, sondern ist Teil der Geschichte. Die Begriffe, die am Anfang an die Zuschauer*innen verteilt wurden, sind Punkte auf der Liste der Protagonistin. Sobald sie eine der Nummern auf den Karten sagt, ist die Person im Besitz der jeweiligen Karte aufgefordert, den zugehörigen Begriff laut zu rufen. Dies erfordert Konzentration und Involviertheit des Publikums und funktioniert überraschend gut. Ich habe die Nummer 853 auf meiner Karte stehen und darf den Begriff „Nacktbaden“ rufen. 🙂

Auch fordert die Schauspielerin einige Zuschauer*innen auf, kleine Rollen zu übernehmen und dabei einfach zu improvisieren. So stellt zum Beispiel ein junger Mann den Freund der Protagonistin da, ein anderer ihren Vater. Hier entsteht kurzzeitig eine unangenehme Situation, als der erste Mann, den sie bittet, ihren Vater zu spielen, seine Abgeneigtheit kundtut schließlich aufgebracht den Saal verlässt. Als man kurz die Betroffenheit der Schauspielerin spürt, eilt ihr blitzschnell ein anderer Mann zur Hilfe, der sich ganz ohne Aufforderung zur Bühne begibt und die Rolle des Vaters übernimmt. Natürlich erntet er dafür schallenden Szenenapplaus und Jubelrufe. Ich denke mir in diesem Moment, dass es doch genau das ist, was Präsenztheater ausmacht. Dass nichts jemals wirklich geplant werden kann, jede Vorstellung irgendwie anders und besonders ist.

Das Stück endet mit einer Szene, in der die Protagonistin ein Lied hört, das für sie mit besonders starken Emotionen verknüpft ist. Drei Minuten lang hören wir nur dieses Lied und sehen die Schauspielerin auf der leeren Bühne sitzen. Nichts Weiteres passiert. Zum ersten Mal seit Stückbeginn wird es dabei im Saal wirklich dunkel. All das ist so einfach, aber doch so effektiv, so ergreifend. Der tosende Applaus nach Stückende macht dies deutlich. Es kommt zur Standing Ovation. Der Darstellerin, ich erfahre später, dass ihr Name Susanne Schrader ist, sind Freude und Berührung ins Gesicht geschrieben. Dazu muss gesagt werden, dass es sich auch um die letzte Aufführung, um die Dernière des Stückes handelt. Es ist also ein besonders emotionaler Moment für alle Beteiligten. Nun hier zu stehen, umgeben von glücklichen Zuschauer*innen, die ergriffene Darstellerin zu sehen, ist für mich etwas, das das Präsenztheater ausmacht. Ich kenne keinen anderen Ort, keine andere Kunstform, die Momente wie diese mit sich bringt.

Als wir den Saal schließlich verlassen bin ich glücklich, dankbar, diese Erfahrung gemacht haben zu dürfen. Und als ich mich umsehe und all die glücklich wirkenden Menschen sehe, die sich angeregt über das eben Erlebte unterhalten, denke ich mir: das ist Theater! Und ich hoffe, dass es langfristig möglich sein wird, dieses in seiner vollen Pracht zu erleben.

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