Berger, John (2013): Der Anzug und die Photographie. In: Berger, John, (Hrsg.): Der Augenblick der Fotografie. Essays. München: Hanser: 36-43.
John Berger vergleicht in dem Essay „Der Anzug und die Photographie“ drei Aufnahmen von dem Fotografen August Sander miteinander. Dabei geht er in seiner Analyse hauptsächlich auf die Kleidung der gezeigten Personen im Zusammenhang mit deren jeweiliger zugeordneter Klassenzugehörigkeit ein.
Vor den eigentlichen Bildinterpretationen werden noch einige wenige Hintergrunddaten zum Schaffen und Leben Sanders dargelegt. Dessen Vorhaben sei es mit diesem Projekt gewesen, ein Sammelsorium an insgesamt 600 Bildern zusammenzustellen, welche ihrerseits in ihren unterschiedlichen Ausführungen Menschengruppen im ländlichen Raum in der Nähe von Köln nach Berufsgruppen und (dem damit zusammenhängenden) Priviligiertheitsstatus systematisieren sollen. Die verschiedenen Personen in den Abbildungen würden dabei jeweils repräsentativ für einen jeden solchen Status und eine Berufsgruppe stehen können. Wie genau bei der Klassifizierung und Einteilung vorgegangen worden wäre, wird in dem Text jedoch erstmal nicht weiter ausgeführt.
Dieses Vorhaben konnte aber nie vollendet werden. Nachdem sein bekennend sozialistischer Sohn in einem Konzentrationslager verstarb, versteckte Sander seine Bilder in Archiven auf dem Land vor den Nationalsozialisten. In den 30er Jahren jedoch schon gelang sein Werk in den Fokus von Persönlichkeiten wie den Philosophen und Kulturkritiker Walter Benjamin, sowie den Schriftsteller und Psychiater Alfred Döblin (dessen Aussagen nur in einem Zitat von Walter Benjamin wiedergegeben werden).
Benjamin zitiert einen Verlag zur Beschreibung von Sanders Art der bildlichen Darstellung als eine „aus der unmittelbaren Beobachtung“ (Berger 2013: 37) entstandenen unvoreingenommene Perspektive. Der Grund für die Unvoreingenommenheit in dem Fall sei die Tatsache, dass Sander sein Projekt ohne die Einflussnahme von „Rassentheoretikern oder Sozailforschern“ (Berger 2013: 37) umsetzen habe wollen. Die Perspektive, die durch die Wahl seiner Motive und die Art der Umsetzung der Bilder entsteht, soll genau deshalb selbst eine Theorie mit wissenschatftlichem Anspruch gewesen sein, da sie eins mit dem zu analysierenden Objekt werden würde.
Döblin hingegen sieht die Wissenschaftlichkeit Sanders eher in seiner Vorgehensweise, nämlich in der Methode des vergleichenden Fotografierens (die er in einem Zitat mit vergleichender Anatomie gleichsetzt).
Berger sucht sich dann für seine Analyse die Fotografien „Jungbauern“ (1914), „Bauernkapelle“ (1913) und „Missionare der evangelichen Kirche Köln“ (1931) aus.
Anfang des 20. Jahrunderts waren Kleidungsstücke wie die dort gezeigten Anzüge, die vorher Personen der Mittel- und Oberschicht vorbehalten waren, zur Massenware geworden. Die Auffälligkeiten in der Kleidungsweise der Personen in den ersten beiden Abbildern beschreibt Berger im Gegensatz zum letzten Abbild damit, dass die Kleidung der Personen der unteren Klassen in einem harten Kontrast zu deren Körperbau stehen soll. Genau an diesem Kontrast sei auch der gesellschaftliche Status erkennbar. Denn passten sowohl Schnitt als auch Stoff der Anzüge bei Personen der Mittel- und Oberschicht gut zu dem äußerlich ersichtlichen Maß an körperlicher Aktivität, fielen ebendiese bei denen mit niedrigerem sozialen Status eher unvorteilhaft aus und ließen die Träger befremdlich aussehen. Wie genau sich diese Befremdlichkeit äußert wird etwas derbe und überzogen beschrieben, woran sich womöglich auch die Voreingenommenheit des Autors wiedererkennen lässt. In dem Zuge wird den Personen der unteren sozialen Klassen auch ihre Würde abgesprochen oder zumindest nur in einem relational sehr gering ausfallenden Ausmaß zugestanden. Denn nur in sozial ähnlich situierten Kreisen würden die von Berger beschriebenen Unstimmigkeiten weniger auffallen (während sie außerhalb dieser Kreise fast nicht auffälliger sein könnten) und teilweise sogar auf Anerkennung stoßen (was von Personen wie denen, die solche Texte schreiben wohl kaum behauptet werden kann, wenn teilweise sogar von soetwas wie „natürlicher Autorität“ in der Mittel- und Oberklasse und „sich in der Anstrengung völlig heimisch zu fühlen“ in der unteren Klasse die Rede ist).
Für die Betrachtung der Kleidungsgestaltung sei zudem noch der zeitliche Kontext nicht zu vernachlässigen: die populären Aktivitäten der herrschenden Klasse hätten sich über die Zeit verändert, was wiederrum eine Anpassung in der Herstellung erforderte. Seien in diesen Kreisen vorher noch physisch anspruchsvollere Aktivitäten ausgeführt worden, beschränke sich die Wahl später auf eher ruhigere und dennoch machtvolle Tätigkeiten.
Die Übernahme der in der Ober- und Mittelklasse verorteten Werte von den weiter unten verorteten Klassen wird im Text mit dem von Gramsci als „Klassen-Hegemonie“ (Berger 2013: 42) betitelten Begriff beschrieben. Doch obwohl sich die Aneignung gewisser Werte wie Gestus und Stil (aus einer bürgerlich-gelehrten Perspektive) eher ungeschickt gestalte, beobachtet Berger eine Form von Stolz unter den arbeitenden Anzugträgern der unteren Klassen. Jedoch verschleiere die als besser angesehene Art sich zu kleiden auch nicht, dass sich die Lebensrealitäten der verschiedenen Menschengruppen in den Bildern in ihren Grundzügen unterschieden und einige Aspekte (wie Teile des Gestus) sich vorerst jeglicher Möglichkeit der Übernahme entziehen, da sie einen anderen Erfahrungshorizont voraussetzen würden. Sowieso sei der Wille sich in bestimmten Hinsichten anzupassen überhaupt erst auf verschiedene Weise von herrschenden Klassen propagiert worden, weshalb die adaptierenden Personen aufgrund von Manipulation dafür nur begrenzt verantwortlich gemacht werden können.
Ein paar Passagen des Textes (die hier teilweise weder zitiert noch umschrieben werden) stimmen mich in ihrer Formulierung sehr mißmutig und einige Fragen und Eindrücke bleiben nach dem Lesen bei mir noch zurück: Inwiefern kann eine wissenschaftliche Methode eins mit dem zu analysierenden Objekt werden? Kann Fotografie selbst in diesem Sinne als eigenständige wissenschaftliche Methode betrachtet werden? Und was sagt das über die (Inter-)Subjektivität des daraus folgenden Standpunktes aus? In welchem Ausmaß haben Bergers Tätigkeiten als Kunstkritiker, Maler und Schriftsteller seine Schlussfolgerungen beeinflusst? Kann der Text trotz der klar ersichtlichen Subjektivität bis zu einem gewissen Grad selbst einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben? Oder schafft es erst eine Analyse dieses Textes mit festgelegten Kriterien auf dieses Level? Wieso benutzt er eine so derbe Sprache für die Beschreibung der Unstimmigkeiten von Kleidung und Körpern der auf den Bildern dargestellten Personen? War Berger sich seines eigenen Standpunktes während des Verfassens dieses Textes bewusst? Können sich Arbeiter aufgrund ihrer physischen Aktivität in ihren Körpern heimischer fühlen, als Leute die weniger physisch aktiv sind? Oder wird daraus nur eine weitere absurde Essenzialisierung kreiert? Entspringt das meiste Geschriebene irgendeiner romantisierten Phantasie, die nicht viel mit der Lebensrealität all dieser Menschen zu tun hat? Und ist deshalb der so hoch gelobte Objektivitätsanpruch komplett hinfällig? Ist das was ich gelesen habe alles sowieso nur Schwachsinn und ein sehr unnötig aufwändiger Zeitvertreib gewesen?