Gegenstandbeschreibung

Ein junges Eichenblatt
Vor mir liegt das kleine Blatt einer Eiche. Gerade vier Zentimeter misst es vom Ansatz bis zur Spitze. Obwohl es so klein ist, ist es abgefallen. Das Blatt ist vertrocknet, der Rücken konkav gewölbt. Es liegt nur an vier Punkten auf, dem Ansatz, der ersten Zacke, die in meine Richtung zeigt, der abgerundeten Spitze und einer Zacke hinter Spitze. Die Zacken sind alle abgerundet, so wie die meisten Eichenblätter die sanft geschwungenen Wellen als Umrandung tragen.
Es ist noch grün, ein gedecktes hellgrün, die Unterseite ist noch ein wenig heller. Erste, fast weiße gepunktete Flecken und ein brauner am Rand deuten das Absterben an. Teile der Ränder, vor allem an den Zacken, gehen ins gelbe über.
Oben nur angedeutet, auf der Unterseite stark hervortretend, zeichnen sich die Leitbahnen der Nervatur ab.
Auf dem Blattrücken sind die winzigen Kapillaren zu sehen, sie lassen die Blattoberfläche auf den ersten Blick rissig erscheinen. Dafür lassen sich die Hauptbahnen, die längst in der Mitte verlaufende und ihre schrägen Abzweigungen der Unterseite erfühlen.
Doch nur behutsam, habe ich doch Angst, das winzige Blatt zu zerbrechen.
Ganz so trocken ist es noch nicht. Mit mehr Kraft kann ich die Wölbung eindrücken, bei ein paar Versuchen bleibt es kurz in der Form stecken.

Wer hat das Blatt mitgebracht? Wie besonders kann ein einziges Blatt sein?
Was das Blatt ist, kann nur ich selbst bestimmen. Für dich ist es etwas anderes. Es ist nie ein „Ding an sich“, es ist immer meine Halluzination, wenn ich es mit meinen Sinnen begreife und jeder Gedanke und jede Geschichte dazu von meinem Gehirn erfunden wird. Das Blatt besteht aus unzählbaren Eindrücken und Geschichten aus meiner Vergangenheit.
Das Blatt ist ein Baum, ein Wald, ein Kampf gegen die unaufhaltsame Zerstörung der Erde, eine Hoffnung, eine tiefe Liebe zur Natur, eine unaussprechliche Wut, jetzt wieder eine Verzweiflung, dann wieder eine Macht, die mich nicht kennt und nicht braucht.
Das Blatt ist ein Spaziergang durch den Wald, der mir seit meiner Kindheit vertraut ist und wo ich jeden Weg kenne, der jetzt in weiter Ferne liegt. Das Blatt ist ein mechanisches Monster, das einen hundert Jahre alten Baum in Sekunden fällt. Das Blatt sind Menschen in Frankreich und Menschen in Deutschland, Menschen in Kanada und Menschen auf Borneo. Manche nennen sich Teil der Natur, die sich verteidigt, manche nennen sich Verteidiger_innen der Natur.
Es ist Sehnsucht, Hingabe, Überleben, Selbstbestimmung, und Heilung.
Ich weiß nicht, was das Blatt dir bedeutet, auch nicht, wieso es in meine Hände gelang. Vielleicht interessiert mich dein Gedanke oder nicht.
Dazu ist es aber zu spät. Das Blatt ist weg. Es liegt wieder auf dem Boden und ist dem Kreislauf der Atome erneut übergeben. Es war nie da, nie echt, nur in meinen Gedanken, vielleicht ist es auch in deinen.

Ein Gedanke zu „Gegenstandbeschreibung“

  1. Obwohl ich mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen kann, dass ich beim Anschauen des beschriebenen Gegenstandes etwas Ähnliches visuell wahrnehmen werde können wie du, werde ich mir natürlich nie zu huntert Prozent sicher sein (und dabei denke ich an grüne oder gelbe Volumen in der Boulderhalle). Aber das muss ich auch gar nicht. Deiner Beschreibung nach zu Urteilen nehme ich das Blatt rein vom Äußerlichen her erstmal nicht besonders viel anders wahr als du, wenngleich sich meine Assoziationen damit grundlegend von deinen unterscheiden mögen. Ich würde allerdings zur Debatte stellen, ob es niemals auch das Ding an sich sein kann. Oder ob du die Konzeption von einem „Ding an sich“ einfach nicht magst. Ich finde es schon spannend, mir Gedanken darüber zu machen, was das Ding an sich sein könnte – abgesehen davon ob es sowas überhaupt geben kann. Wenn ich mir vorstelle was es ist, kann es schonmal irgendwo in meinen Gedanken existieren. Und da es auch in deinen Gedanken und den von anderen Personen existieren kann, wird es vielleicht doch einfach die Konzeption des Blattes sein, die das Ding an sich darstellt. Als Idee oder Kategorie in einer nicht-materiallen Sphäre, abgeschottet und geschützt vor allen vergegenständlichten Blättern der weltlichen Sphäre. Wobei an dem Punkt die Frage gestellt werden könnte: welche Blätter sind fragiler? Die weltlichen, welkbaren Blätter? Oder die ideellen Konzepte, die sich je nach Geistesapperat und Vorstellungsvermögen anpassen und verändern? Und dann so als „einheitliches“ Konzept vielleicht doch nie da waren? Wäre es dann doch verlässlicher, sich auf die Sinne zu berufen und die Wahrnehmung den Gegenstand bestimmen zu lassen? Können Ideen der Konfrontation mit der Wirklichkeit standhalten? Was, wenn es die Überzeugung gab, dass die gleiche Vorstellung von etwas bestünde und dann beim Abgleich der Sphären etwas komplett verschiedenes dabei herauskäme? Es scheint so offensichtlich und doch ist es verblüffend, dass im Alltag oft über allerhand Gegenstände wie Ideen gesprochen wird und dabei ein ähnliches Verständnis von beidem vorausgesetzt ist. Und wie wenig im Zuge dessen die möglichen Unterschiede im Vorstellungsvermögen zu sprechen kommen, da bei gleicher Nutzung der Worte auch von der gleichen Vorstellung eines Gegenstandes oder einder Idee ausgegangen wird. Vielleicht ist die Zeit knapp, vielleicht scheint es gerade irrelevant wie ich mir den Apfel vorstelle, von dem wir gerade beide reden. Vielleicht trage ich nur schwarze Klamotten, um die Leute nicht zu verwirren. Vielleicht hätte ich manchmal gerne ein einheitliches Verständnis von Dingen in einer Welt, die so komplex ist dass mir manchmal fast der Kopf platzt.

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