Filmkritik – „The Mule“ (2018)
In einem Alter, in dem manche bereits 30 Jahre lang den Ruhestand genießen, bringt Clint Eastwood weiterhin neue Filme auf die Leinwand. „The Mule“ aus dem Jahr 2018 wurde nicht nur von ihm produziert, er führte auch Regie und spielte die Hauptrolle. Er verkörpert den neunzigjährigen Koreakriegsveteran Earl Stone, der aufgrund finanzieller Probleme zum Drogenkurier wird und von Bradley Cooper als DEA-Agent Colin Bates gejagt wird. „The Mule“ ist aufgrund des spannenden Plots durchaus sehenswert, hat aber Probleme mit dem Erzähltempo sowie einigen Stellen, die unangebracht und aus der Zeit gefallen wirken.
Das von Nick Schenk geschriebene Drehbuch wurde dabei von einem echten Fall inspiriert: Sam Dolnick veröffentlichte 2014 in den New York Times einen Artikel über Leo Sharp, einen damals neunzigjährigen Taglilienliebhaber, der in seinem Pickup-Truck Drogen für El Chapos Sinaloa Kartell über die Highways der USA transportierte. Doch „The Mule“ orientiert sich nur lose an der Geschichte von Leo Sharp. So wird auch zu Recht das übliche „based on a true story“ im Vorspann vermieden.
Earl Stone kommt als Protagonist der Handlung anfangs wenig sympathisch daher. Er ist ein alter Mann, der über Jahrzehnte hinweg mit seinem alten Pickup-Truck lieber durch die Staaten tuckert, um einen Taglilienzüchterpreis nach dem anderen abzuholen, statt zur Taufe, Konfirmation und Hochzeit seiner Tochter zu erscheinen. Als er dann mit seinem Unternehmen insolvent geht und seine Blumenfarm zwangsversteigert werden soll, wendet er sich doch an die Familie. So kommt er zufällig gerade rechtzeitig zur Verlobungsfeier seiner Enkelin, die auch die Einzige ist, die sich über sein Kommen freut. Seine Tochter aber hegt eine so große Abneigung gegen ihn, dass sie im Auto wartet, bis er wieder verschwindet. Als er das auch tun will, spricht ihn ein Gast der Feier an und bietet ihm angesichts seiner offensichtlich misslichen Finanzlage einen Job an.
Er nimmt dieses Angebot an und wird damit unbewusst zum Drogenkurier für das mexikanische Kartell. So will es Eastwood einem zumindest verkaufen: Als Earl Stone seine dritte Tour fährt, schaut er sich seine Ladung an und ist erschrocken, als er sieht, dass er mit einer Tasche voller Kokain unterwegs ist. Er muss also bei den vorherigen Touren geglaubt haben, dass die schwerstbewaffneten Mexikaner, die die Taschen zunächst im Pickup-Truck verstecken wollten, indem sie seinen Sitz oder den Radkasten aufschneiden, tausende Dollar dafür zahlen, ihre Unterwäsche durch die Gegend fahren zu lassen – oder so ähnlich. Es ist einer von diesen Momenten, die zu unnatürlich wirken und die die so ernstanmutende Geschichte unplausibel machen.
Seine Motivationen, diese Touren zu fahren, sind jedoch zunächst nachvollziehbar. So unterstützt er seine Enkelin finanziell bei ihrer Hochzeit, zahlt seine Schulden ab, um seine Farm vor der Zwangsversteigerung zu retten und spendet viel Geld an Projekte, die ihm am Herzen liegen. Doch der Sog des Konsums macht vor einem Lebemann wie Earl Stone nicht halt. Aus den edlen, teils selbstlosen Beweggründen wird die Lust auf Goldkettchen und Prostituierte – zur Erinnerung: Earl Stone ist 90.
Die Angst vor dem Kartell und die Konsequenzen, die sich aus einem Ende der Kurierfahrten ergeben könnten, wären ein plausibler Grund gewesen, die Touren fortzusetzen. Clint Eastwood entschied sich jedoch für genau das Gegenteil. Angst hat Earl Stone überhaupt nicht. Selbst als er später von Mitgliedern des Kartells begleitet und regelmäßig bedroht wird, bleibt Earl entspannt. Er ist ein stolzer, mutiger Kriegsveteran – ein Typ der alten Schule. Er singt entspannt in seinem Truck zu Songs im Radio oder macht spontane Stopps, obwohl ihm das ausdrücklich verboten wurde. Ein freiheitsliebender Mann, der sein Leben in vollen Zügen genießt. Sogar so sehr, dass er auf einer Party im Anwesen des Kartellbosses gleich zwei Frauen mit auf sein Zimmer nimmt – man sei noch mal erinnert: Earl ist ein neunzigjähriger Taglilienzüchter.
An dieser Stelle muss auf die dargestellten Geschlechterrollen eingegangen werden. Fast keine Frau im gesamten Film nimmt irgendeine Machtstellung ein. Jeder Polizist ist männlich, jeder DEA-Agent ist männlich, seine Schulden zahlt er an einen Mann und selbst die Preisverleihung zu Beginn des Films wird von einem Mann moderiert. Mit der Ausnahme einer Anwältin und einer Richterin tauchen Frauen hauptsächlich als Kellnerinnen oder Prostituierte auf. In einer Szene trifft Earl zwar eine Gruppe von Bikerinnen, diese dient aber lediglich dazu, einen Witz darüber zu machen, dass diese Frauen aussähen wie Männer. Zudem weiß Earl, der alte weiße Mann, natürlich direkt beim Hören des ersten Geräuschs, was an deren Motorrad kaputt ist und kann es den ratlosen Frauen erklären – ein Held. Den Zeitgeist trifft Clint Eastwood mit derartigen Darstellungen nicht, den Humor einiger seiner hochbetagten Fans möglicherweise schon.
Ratschläge gibt Earl Stone auch an seinen Verfolger DEA-Agent Bates (gespielt von Bradley Cooper), als sie sich in einem Diner treffen. Zu diesem Zeitpunkt hält Bates Earl Stone noch für einen normalen alten Mann, so wie auch etliche Streifenpolizisten vor ihm. Dem Spannungselement des plötzlichen Erscheinens der Polizei wird sich aber im Endeffekt zu oft bedient. Denn Earl Stone wird sowieso automatisch für unschuldig gehalten, weil er alt ist – selbst vor Gericht. Der Handlungsstrang um Agent Bates ist dennoch kurzweilig. Durch einen Informanten ist die DEA über die Schmuggelrouten informiert. Doch Earl Stone hält sich, wie zuvor erwähnt, nicht immer an den genauen Plan des Kartells, weshalb er der DEA unbewusst oft einen Schritt voraus ist. Dies gestaltet die Verfolgung recht spannend.
Die Darstellung Mexikos ist geprägt durch alte Stereotypen. Der orangene Filter im Stile Breaking Bads bleibt einem zwar erspart, aber die Darstellung Mexikos als Sexabenteuerland erinnert an Robert Rodriguez „From Dusk Till Dawn“. In der Partyszene im Anwesen des Kartellbosses kommen – grob geschätzt – auf einen Mann zehn Prostituierte und Earl Stone ist natürlich mittendrin. Auch rassistische Entgleisungen kommen vor. Er nennt Mexikaner „Bohnenfresser“ und als er einem Schwarzen Paar beim Reifenwechsel hilft, spricht er sie mit dem N-Wort an. Zudem wird sich in einer Szene über einen mexikanisch aussehenden Mann belustigt, der panische Angst hat, während er sich in einer polizeilichen Verkehrskontrolle befindet. Wie genau derartige Szenen den Film weiterbringen, bleibt fraglich. In den jeweiligen Szenen wird Earl dann darauf hingewiesen, dass man sich so nicht mehr ausdrückt. Obwohl er seit mindestens zwölf Jahren Mexikaner auf seiner Farm angestellt hat und fast sein ganzes Leben durch die USA reiste, schien ihm das vorher noch niemand gesagt zu haben – komisch. Dass der Charakter Earl Stone sich nicht mit der gegenwärtigen Gesellschaft identifiziert, wird auch schon vorher deutlich subtiler vermittelt, weshalb diese Szenen getrost hätten fehlen dürfen. Nicht nur einmal lässt sich Earl über die Technikbesessenheit der jüngeren Generation aus. Sei es das Handy oder das Internet, Earl versteht es nicht und will sich auch nicht damit beschäftigen. Diese Ausführungen hätten gereicht, um den Generationenkonflikt darzustellen. So wäre auch mehr Zeit geblieben für das Familiendrama, durch das man durchgejagt wird.
Das Erzähltempo ist ziemlich uneben. Während die Geschichte des Drogenkuriers Earl Stone ganz behutsam erzählt wird, sodass man mittendrin auch einen Hauch von Langeweile verspürt, bekommt die Geschichte des gescheiterten Vaters wenig Raum. Deshalb wirken manche Charakterentwicklungen überraschend. Zwischen der Tochter, die nicht neben ihrem Vater sitzen will, und der Tochter, die ihren Vater zum Festtagsessen einlädt, liegt nicht viel Screen Time. Dies führt auch dazu, dass das Ende Vielen ein Fragezeichen ins Gesicht zeichnen dürfte.
Die Rolle des Earl Stone ist überladen: Er ist weise, furchtlos, charmant; gleichzeitig aber auch unbeholfen, unehrlich und egoistisch. Später ist er dann doch wieder selbstlos und ehrlich. Ein Charakter darf und soll sich ja entwickeln, aber es gibt leider keine fortlaufende Entwicklung, sondern andauernde Sprünge, die die Entscheidungen des Charakters unschlüssig machen. Was jedoch gut funktioniert, ist die Dosierung der Emotionen, die die Handlung auslöst. So fühlt man nach und nach immer mehr mit dem vorher so unsympathischen Protagonisten mit. Dies funktioniert hier oft mit Halbnah- und Nahaufnahmen, die Earl Stone nachdenklich zeigen. Meistens sind solche Szenen auch mit melancholischer Musik unterlegt, auch wenn an extradiegetischer Musik recht erfolgreich gespart wird und diese eher diegetisch daherkommt (wie beispielsweise das häufig zuhörende Autoradio). Eine eindrückliche Szene zeigt Earl Stone im Haus seiner Familie. Seine Ex-Frau Mary Stone (gespielt von Dianne West) ist schwer erkrankt und er pausiert seine Tour, um bei ihr zu sein. Auch hier gilt der Fokus Earl Stone und seiner Gefühlswelt. In einer Szene ist es ganz ruhig, man hört nur Mary Stone nach Luft ringen, was eine bedrückende Atmosphäre schafft. Mary Stone ist im bettliegend nur von der Seite zu sehen. Earls Reaktion auf das, was er sieht, steht im Mittelpunkt. So wird immer wieder von der halbnahen Einstellung, die beide zeigt, auf Nahaufnahmen von Earl Stone geschnitten. Dieser Wechsel transportiert die Emotionen Earls sehr gekonnt und lässt mitfühlen.
„The Mule“ ist kein schlechter Film, aber auch kein besonders guter. Hätte Eastwood an der einen oder anderen Stelle am Altherrenhumor gespart und dem Drama stattdessen mehr Zeit gegeben, wäre die meiste Kritik hinfällig. Potenzial zu mehr bot der Plot mit Sicherheit. So ist der Film ein recht unterhaltsames, aber wenig tiefgehendes Roadmovie mit einzelnen Stellen, die für heutige Verhältnisse unpassend wirken. Mit „Don’t Let the Old Man In“ von Toby Keith läuft auch ein sehr passender Song im Hintergrund der Schlussszene. Clint Eastwood hat leider aber vor allem in Sachen Humor zu oft den alten Mann reingelassen.
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