„Verschollene Filmschätze: 1946. Die Tokioter Prozesse“.
Jahr: 2022, Land: Frankreich, Spieldauer: 26 Minuten.
Regie: Serge Viallet, Franck Mazuet.
Autor: Daniel Prüß
Die Nürnberger Prozesse kennt in Deutschland beinahe jeder. Der Kriegsverlauf im europäischen zweiten Weltkrieg kann von zahllosen Menschen nachgezeichnet werden. Dass der Krieg jedoch auch auf der, von uns aus gesehenen, anderen Seite der Welt stattfand ist schon deutlich weniger Menschen bekannt. Auch im Pazifik herrschte eine dramatische und jahrelange Schlacht zwischen den Alliierten und den, mit dem dritten Reich verbündeten, Japanern. Mit dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki endete auch an dieser Kriegsfront der Krieg mit dem Sieg der Alliierten. Ebenso wie bei den berühmten Nürnberger Prozessen, bei welchem die Hauptkriegsverbrecher des nationalsozialistischen dritten Reiches ihrer Strafe zugeführt wurden, gab es auch in Tokio 1946 Kriegsverbrecherprozesse gegen die 28 Hauptverantwortlichen des unmenschlich geführten japanischen Krieges.
Die Regisseure Serge Viallet und Franck Mazuet haben es sich 2022 zur Aufgabe gemacht, mit dem Film „1946. Die Tokioter Kriegsverbrecherprozesse“, welcher in der arte-Filmreihe „Verschollene Filmschätze“ erschien, die Wissenslücken zu diesem, in Europa recht unbekannten, Teil der Weltgeschichte zu schließen. Laut der Filmbeschreibung sollen die folgenden Fragen in diesem Werk beantwortet werden: Wieso zieht sich der Prozess über zweieinhalb Jahre hin? Wer sind die Richter? Warum sind es elf Richter? Und was erfährt die japanische Öffentlichkeit durch diesen Prozess?
Irritation gleich von Beginn an
Wo bei Filmen eigentlich eine pompöse Titelmusik den Zuschauer empfängt und ihm dabei den spannungsgeladenen Weg in ein Abenteuer ausrollt ist bei diesem Film: Nichts. Der Zuschauer wird durch ein Knistern begrüßt, fast so als wenn ein analoger Film vor unseren Augen in eine Abspielvorrichtung eingelegt wurde und der alte Mann im Kino den „Abspielen“-Knopf drückt. Der knisternde Ton wird durch Lichtspiele untermalt, welche sich uns nicht zu bekannten Formen formen wollen. Schließlich sehen wir ein Bild eines alten Filmbandes. Dazu wird, ganz im Stile eines jahrzehntealten Streifens, die zweisprachige Nennung der am Film beteiligten Personen und dessen Titel genannt. Spätestens mit dem Abspielen des instrumentellen Eröffnungs-Jingles bekommt der Zuschauer das unweigerliche Gefühl, er würde sich gerade tatsächlich im Jahre 1946 befinden und einen aktuellen Film schauen.
Der Erzähler als Dirigent der Bilder
Im Anschluss an dieses Intro, welches sich doch so sehr von modernen (Dokumentar-)Filmen unterscheidet meldet sich zum ersten Mal der Erzähler. Während wir sehen, wie einige Männer mit Aktentaschen aus einem Bus steigen, welcher von Wachen umstellt ist, ordnet der Erzähler diese Bilder sofort ein und lässt uns wissen, dass diese Männer ehemalige führende Politiker Japans sind, welche gerade aus dem Gefängnis gekommen sind und nun das Gericht betreten, um für die von ihnen begangenen Kriegsverbrechen zu büßen.
Erneut bemerken wir Unbekanntes: Es gibt keinerlei Musik die der Untermalung dient. Auch die Bilder tragen keinen Ton mit sich. Und so lässt uns der Sprecher in seinen Satz- und Wortpausen mit den bewegten, aber stummen Bildern alleine.
Nach 2:55 Minuten erneut ein auffälliges Mittel: Der Sprecher scheint die Bilder zu „dirigieren“. Er ist es, der fordert, dass die eben gezeigten Bilder eines auffällig gekleideten Mannes noch einmal abgespielt und in verlangsamter Geschwindigkeit gezeigt werden. Seine geäußerte Verwunderung über das Gesehene legt den Grundstein für die Erkundung dieser geschichtsträchtigen Bilder, die wir noch über die kommenden 23 Minuten gemeinsam vornehmen werden.
Immer wieder werden solche Eingriffe in das Abspielen des Films gemacht. Nicht nur wird das Gezeigte dadurch verdeutlicht, es wird dem ganzen Film auch der Anstrich gegeben, als wenn man mit dem Erzähler in einem Raum säße und dieser dem Zuschauer in einer Privatvorstellung sein privates Filmmaterial vorspielt.
Der Bruch der Bildspiele
Diese Präsentation der Bilder wird nur durch drei Aspekte im Verlauf des Films unterbrochen: Zum einen werden dem Betrachter immer wieder mit einfachen Karten die japanischen Gebietseroberungen und die entscheidenden, weil brutalen, Schlachten gezeigt. Zum anderen wird mit weiteren Grafiken dem Betrachter unter anderem die Aufteilung des Gerichtssaals vorgestellt. Final werden insbesondere am Ende des Films, aber auch bereits in der ersten Viertelstunde, Fotos neben die gezeigten Aufnahmen gelegt. Diese Fotos zeigen die politischen Akteure in ihren Machtpositionen und legen einen klaren Gegensatz zu den von Wachen umgebenen Personen die auf der Anklagebank im ehemaligen japanischen Verteidigungsministerium auf ihr Schicksal warten. Die direkte Nebeneinanderstellung der Bilder ist dabei ein kraftvolles Element um das Schicksal der Kriegsverbrecher zu betonen.
Weitere Unterbrechungen in dem scheinbar vorgegebenen Filmspiel bilden einzelne grafische Einblendungen, in welchem dem Zuschauer wie mit einer Schablone ein einzelner Aspekt, meistens ein bestimmter Angeklagter in einer bestimmten Situation, aus dem Bild gehoben wird. Auch hierbei wird keine Farbe, sondern eine schwarz-weiße und sehr einfache Schablone verwendet.
Die Bilder lernen sprechen
Erst nach einem knappen Drittel des Films sprechen die Bilder zum ersten Mal. Vorher werden die legendären Bilder des Angeklagten Okawa gezeigt, wie er dem prominentesten Angeklagten in der Runde, Hideki Tojo, einen Klaps auf den Hinterkopf verpasst. Der Erzähler berichtet uns von der Unruhe die nach diesem Klaps im Gerichtssaal entsteht. Um diese zu hören und nicht nur zu sehen werden die schon für stumm verstandenen Bilder schließlich doch noch aus ihrer Ruhe entlassen und dürfen uns Kunde tun. In der Folge wird dieser erstmalige Stilbruch noch häufiger und in immer kürzeren Abständen vorgenommen. Aussagen wie die des prominenten Angeklagten Hideki Tojo, des letzten Kaisers von China, Pu Yi, welcher als Zeuge aussagte oder die Urteilssprüche am Ende des fast zweieinhalb Jahre andauernden Prozesses werden mit der originalen Tonspur unterlegt. Anhand dieses Stilmittels sehen wir Geschichte nicht nur, wir hören sie auch aus erster Hand. Aufgrund des radikalen Stilbruchs, dem Hörbar-Machen der Bilder nach voriger Stille, werden die hörbaren Passagen besonders hervorgehoben. Dadurch bietet sich dem Erzähler die Möglichkeit diese Stellen besonders zu betonen und an ihnen, mithilfe der anderen, bereits erwähnten, Stilmittel, beispielhaft einige Anekdoten des Prozesses hervorzuheben.
Das Ende der Farblosigkeit
Ganz am Ende des Filmes, es wird gerade die Bedeutung(slosigkeit) des Prozesses für die japanische Erinnerungskultur hervorgehoben, gibt es doch noch einen weiteren radikalen Stilbruch. Wenn der Zuschauer schon fast auf den Abspann wartet und sich Gedanken macht, wie er denn den weiteren Tag nach dem Film angehen möchte, zeigt sich dieser plötzlich farbig. Wir sehen zuerst die gewohnt schwarz-weiße Welt in welcher ein Schrein zu sehen ist in welchem japanischen Soldaten gedacht wird. Mit einem Mal wandelt sich das Bild und wir sehen den gleichen Schrein in Farbe. Der Erzähler ordnet das zu Sehende ein: Wir befinden uns nun nicht mehr im Jahre 1946, sondern im Jahre 1978. Der Schrein ehrt ab diesem Jahr auch die Hingerichteten der Kriegsverbrecherprozesse. Ein Fakt, welcher dem Erzähler sauer aufstößt. Er möchte, und auch dort sehen wir wieder das betonende Element der radikalen Stilbrüche, den Zuschauer noch ein letztes Mal aus seinem Sessel hervorholen und ihm an diesem Beispiel zeigen, wie die Kriegsverbrecherprozesse in seinen Augen nur wenig an der japanischen Erinnerungskultur an diesen schrecklichen Krieg ändern konnte. Verglichen mit den, am Anfang des Films gezeigten, Bildern von wartenden Besuchern des Prozesses und der dort aufgeworfenen Frage inwiefern der Prozess in der Lage sein wird die japanische Gesellschaft zu verändern, wird hier das Ende des gespannten Bogens erreicht und ein Fazit zur sich selbst eingangs gestellten Frage gestellt.
Die Fakten sprechen eine starke Sprache
Wie bereits in den vorangegangenen Zeilen betont, stellen die meist sachlich vorgetragenen Fakten das Rückgrat des Films. Diese werden untermalt durch die stilistischen Mittel. Dabei werden selbst aufgeworfene Fragen immer beantwortet. So werden auch die hier ebenfalls am Anfang dieser Kritik gestellten Fragen beantwortet: Der Prozess zieht sich über die lange Dauer, da die Verlesungen und Vernehmungen durch die mehrfache Übersetzung enorm viel Zeit dauern. Einige der Richter werden uns vorgestellt, die Anzahl mit der symbolischen Anzahl von 11 durch Japan angegriffenen Ländern begründet. Auch die Rolle der japanischen Öffentlichkeit wird, wie eben dargestellt beleuchtet. Zwar bekam diese sämtliche Schilderungen der Taten ihrer Landsleute dargeboten, angenommen und eine wirkliche Kultur des Erinnerns gab es jedoch nicht wirklich.
Alles in allem erfüllt der Film die an ihn gestellten Anforderungen mit Bravour. Er schafft es einen so sachlichen Kern zu vermitteln, ohne jedoch dabei für den Zuschauer zu irgendeiner Zeit langweilig zu werden. Durch die zahlreichen Stilbrüche wird die Aufmerksamkeit immer wieder von Neuen angeregt und das Gefühl in einer persönlichen Vorstellung mit dem Erzähler und seinem Assistenten zu sein ist ein sehr ungewohntes Gefühl, schafft es aber eine so noch nie dagewesene Nähe zum Bildschirm zu spüren.
Der Film schließt wie er begann: Knacken. Schnittbilder. Musik. Namen. Ende. Dankeschön.
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