Wir haben den 26.12.21 und befinden uns am Esstisch meiner venezolanischen Familie in Stuttgart.
Wieso ich diesen Ort für meine Beobachtungsaufgabe gewählt habe? Ich hatte tatsächlich wirklich bessere Orte im Kopf. Wie ein Wald zu Beispiel oder ein Café! Jedoch rennt mir die Zeit davon und ich komme nicht dazu, da jeden Tag Programm ansteht. Daher kam ich auf die grandiose Idee zwischen den Familien-Treffen meine Beobachtungsaufgabe zu veranstalten!
Wir sind bei meiner Tante im Haus und befinden uns in ihren schön dekorierten Wohnzimmer. Ich habe meine Familie bereits vorgewarnt, dass ich nun am Tisch eine Weile sitzenbleiben werde, um was zu „dokumentieren“. Leider können nicht alle meine Familienmitglieder anwesend sein, da sich der größere Teil in Kuba und Venezuela befindet. Heißt, wir sind heute nur eine kleine Runde
23:38 schlägt die Uhr. Es wurde bereits gegessen, weshalb der Tisch wie ein Schlachtfeld ausschaut. Dreizehn Teller liegen auf dem Holztisch. Die tief gelegten Teller besaßen alle eine quadratische Form und waren im schlichten Weiß glasiert. Beim Anblick dieser weißen Platten muss ich ein wenig schmunzeln. Manche Teller sind leer geputzt, bei manchen wurde nur die Hälfte gegessen. Bei einem Teller wurde kaum was angerührt und beim anderen wurde alles gegessen, außer das Gemüse natürlich. Ich kann schon beinahe zuordnen, von wem welcher Teller stammt. Zwischen den Tellern liegen aufgerissenes Geschenkpapier, ein Schnuller, Kerzen und Sektgläser. An einem befindet sich ein Abdruck eines knallroten Lippenstiftes. Sicherlich das Glas meiner Tante. Zwischen dem ganzen Chaos befinden sich natürlich auch unsere beliebten Geräte: die Handys. Eins dieser Handys vibriert gerade durchgehend. Kein Anruf, sondern nur mehrere Nachrichten auf einmal. Der recht mittelgroße Raum mit hohen Decken wird gefüllt von Stimmen, lautem Gelächter, schiefen Gesang und der lauten Salsa-Musik. Alle Reden oder besser gesagt, schreien beinahe kreuz und quer durch den Raum. Eine Mischung aus Deutsch und Spanisch wird hier gesprochen. Auf der Couch sitzen die, die nicht so gerne tanzen. Mein Opa und mein Onkel. Mein Opa erzählt wieder einer seiner „Abenteuer“ aus Venezuela. Dabei gestikuliert er mit leichten Bewegungen. Mein Onkel betrachtet sein Weinglas mit schweren Augenlider. Er schwingt die rote Flüssigkeit recht langsam und bestimmt in kleine Kreis-Bewegungen. Sein wiederkehrendes Nicken gibt meinen Opa die Bestätigung, dass er seiner Geschichte noch mit lauscht. Obwohl die Stimme meines Opas so sanft und leise ist, höre ich diese beim Anblick seiner Lippenbewegungen ganz klar und deutlich in meinen Ohren. Meine Cousine und Tante stehen seitlich im Raum. Mit Sektgläser in der Hand unterhalten sie sich. Sie fangen an laut zu lachen und fallen sich in die Arme. Sie amüsieren sich.
Ich sehe gerade, wie mein Cousin mit seiner Verlobten auf den Balkon flüchten. Sie reden, schauen sich tief in die Augen und küssen sich. Aus dem Kuss wird ein Gekicher und sie zünden sich anschließend eine Zigarette an. Mein anderer Onkel, welcher nun seit einer Weile alleine in der Mitte tanzt, hatte anscheinend nun genug der Einzige zu sein. Er reißt meine Tante aus ihren Gesprächen und fordert diese zum Tanzen auf. Und wie eine Kettenreaktion nimmt meine Tante, meine Cousine gleich mit in die Party, und meine Cousine fordert meine Schwestern auf usw. Nun tanzen alle zum Rhythmus der Salsa-Musik. Manche singen sogar laut mit. Manche tanzen zusammen und manche alleine und jeder in seinen eignen persönlichen Stil.
Die Tante mit dem roten Lippenstift hat ihr Enkelkind in den Armen genommen und wippt mit ihr zum Takt. Dabei fehlt ihr Kuscheltier runter. Ein Hase mit einer roten Schleife um den Hals, welcher ihr Weihnachtsgeschenk heute war. Traurig schaut sie runter und ihr Gesicht verzieht sich zum Schreien. Mein Onkel rettet doch schnell ihr Kuscheltier und so schnell, wie die Tränen da waren, waren sie auch wieder weg. Mein Papa hat den guten Rum nun gefunden und ausgepackt. Jetzt geht es richtig los. Es ist „Salsa-Time“. Ein Kreis wird gebildet und meine Cousine ist die erste, welche in die Mitte reingeworfen wird. Um sie herum wird getanzt, und so geht es nach der Reihe. Ich beobachte gerade, dass mein Opa in der Couch eingesunken ist und schläft.
Mein Onkel läuft mit seinem leeren Glas Richtung Küche und gab mir beim Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange. Meine Tante zückt das Handy raus und tippt mit zugekniffenen Augen mit ihrem Zeigefinger auf den grell-leuchtenden Bildschirm. Sie versucht unsere Oma aus Venezuela per FaceTime zu erreichen. Und tatsächlich geht sie ran! Jedoch ist ihr Bild stark verpixelt, vermutlich keine gute Verbindung. Statt aus dem Raum zu gehen, bleibt meine Tante im Raum und versucht mit großer Mühe meine Oma bei dieser lauten Musik zu verstehen. Ich weiß jetzt schon, dass das Handy gleich herumgegeben wird und auch ich bald an der Reihe sein werde. Ich bin dankbar, dass ich zumindest mit meiner Oma aus Venezuela ab und an kommunizieren kann. Leider wissen wir nie, wann wieder die Möglichkeit besteht, Sie wiederzusehen. Darum schätze ich jeden Anruf immer mehr und mehr.
Mein Onkel hat es zurück von der Küche ins Wohnzimmer gefunden. Sein leeres Glas hat er in der Küche zurück gelassen. Dafür hat er nun eine ganze Flasche mitgebracht, aus dieser er nun auch trinkt.
Wie ich bereits erwähnte ist leider nur ein kleiner Teil meiner Familie hier. Selten habe ich die Möglichkeit, aufgrund politischer Situationen, meine Familie in Südamerika zu besuchen. Einen kleinen Teil meiner Familie heute hier zu sehen erfüllt mich mit großer Freude. Mir wird warm ums Herz und ich realisiere gerade, dass ich froh bin, mein Beobachtungsaufgabe hier veranstaltet zu haben. Ich bin immer stets im Geschehnis mit dabei, aber nun einmal das ganze von außen zu beobachten lässt mich spüren, wie viel Liebe in diesem chaotischen Haufen steckt. Mit wie viel Liebe meine Tante ihre Enkeltochter ansieht. Wie herzhaft und brüderlich mein Vater und Onkel sich umarmen. Wie viel Spaß mein Opa hat seine Geschichten zu erzählen. Mit welcher Mühe versucht wird, meine Oma an dieser kleinen Feier teilhaben zu lassen.
Ich bin sehr glücklich und beende hiermit meine Bobachtungsaufgabe, den auch ich möchte mich nun in diesen liebevollen Haufen reinwerfen.
Hallo Yanett!
Deine Beobachtung liest sich sehr schön und man wünscht sich, dass man auch hätte dabei sein können. Für eine Beobachtung sollte man grundsätzlich eher unbekannte Orte und Situationen nutzen. Du kennst deine Familie und bist Teil davon. Eine außenstehende Person würde die Situation völlig anders beschreiben. So würde eine unbeteiligte Person zum Beispiel nicht wissen, wie genau ihr miteinander verwandt seid oder wem das Glas mit dem Lippenstift gehört.
Eine Beobachtung ist nie 100% neutral. Das ist nicht möglich und auch gar nicht unbedingt erwünscht. Du solltest aber trotzdem versuchen die Balance zwischen Distanz und Nähe zu halten. Bei deiner eigenen Familie ist das natürlich nicht möglich. Das Ende in dem du deine eigenen Gedanken und Gefühle einbringst ist aber in Ordnung. So etwas kann man machen.