Der deutsche Expressionismus entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die zunehmende Industrialisierung und Urbanisierung der deutschen Gesellschaft. Mit dem Schwerpunkt auf emotionalem Ausdruck und Individualismus versuchten die Künstler/innen des Expressionismus, ihre subjektiven Erfahrungen mit der Welt durch ihre Werke zu vermitteln. Einer der prominentesten Künstler dieser Bewegung war Jakob Steinhardt (1887-1968), ein Künstler, Grafiker und Illustrator, dessen Werk den Geist der expressionistischen Bewegung widerspiegelt. Zum ersten Mal begegnete ich den Werken Steinhardts im jüdischen Museum Berlin. Ihre psychologische Profundität und ein oft unterliegender melancholischer Farbenschleier weckten mein Interesse und veranlassten mich, über diese Kunstgröße einen Blogbeitrag zu verfassen.
Frühes Leben und Karriere:
Jakob Steinhardt wurde am 26. Mai 1887 in Zerkow, in der ostpreußischen Provinz Posen, geboren. In einer jüdischen Familie aufgewachsen, sollte Steinhardt in die Fußstapfen seines Vaters treten und Rabbiner werden. Er entdeckte jedoch bald, dass seine wahre Leidenschaft der Kunst galt und schrieb sich 1905 an der Münchner Akademie der Bildenden Künste ein.
In München studierte Steinhardt bei namhaften Künstlern wie Heinrich von Zügel und Otto Fuchs. Trotz seiner Bewunderung für die Werke der Alten Meister fühlte sich Steinhardt von der sich rasch verändernden gesellschaftlichen Landschaft Münchens angezogen und begann, in seiner Kunst mit modernistischen Techniken zu experimentieren. Er befreundete sich mit Künstlerkollegen/innen wie Wassily Kandinsky, Franz Marc und Gabriele Münter, die alle später zu Schlüsselfiguren der expressionistischen Bewegung werden sollten.
Steinhardts frühe Werke, wie sein Gemälde „Straßenszene“ (1909), fangen die Bohème-Atmosphäre in den Münchner Cafés und Straßen ein. Das Werk vermittelt ein Gefühl der Unabhängigkeit und Spontanität, das zum Markenzeichen des expressionistischen Stils werden sollte.
Steinhardt experimentierte im Laufe seiner Karriere immer wieder mit neuen Techniken und arbeitete mit einer Vielzahl von Medien, darunter Holzschnitt, Radierung und Lithografie. Bekannt wurde er durch seine Illustrationen jüdischer Texte, darunter die Haggada, die er 1922 illustrierte. Die Haggada ist ein jüdischer Text, der die Geschichte des Pessachfestes erzählt.
Expressionistische Themen und Techniken:
In Steinhardts Werk geht es häufig um Themen wie Entfremdung, Einsamkeit und Angst. Seine Gemälde, Drucke und Illustrationen zeichnen sich durch kühne Linien, kräftige Farben und übertriebene Formen aus, die oft an das Surreale grenzen. Seine Verwendung kantiger Formen und verzerrter Figuren vermittelt ein Gefühl emotionaler und psychologischer Spannung und spiegelt die Unsicherheit und die Unruhe der Zeit des Ersten und später auch des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts wieder. Als Soldat im Ersten Weltkrieg lernte Steinhardt Teile Polens und Litauens kennen. Die Bekanntschaft mit dem ostjüdischen Leben führte zu einer Wiederentdeckung seiner Religion, die sich auch in seiner Kunst wiederfand.
In seiner Holzschnittserie „Biblische Legenden“ (1919-1923) stellt Steinhardt Szenen aus der Bibel in einem ausgeprägt expressionistischen Stil dar. Die strengen Linien, kräftigen Farben und übertriebenen Formen vermitteln ein Gefühl des Übernatürlichen und verleihen den Geschichten ein neues Gefühl der Dringlichkeit.
In seinem späteren Werk experimentierte Steinhardt mit Mischtechniken und kombinierte Holzschnitte und Lithografien, um vielschichtige Bilder zu schaffen. Seine Serie „Jerusalem Windows“ (1917-1922) ist ein Beispiel für diese Technik. In dieser Serie kombinierte Steinhardt Holzschnitt, Lithografie und Aquarell, um eine lebendige Darstellung der Architektur und der Leuchtkraft der Stadt zu schaffen.
Vermächtnis:
Jakob Steinhardts Werk hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf den Expressionismus. Dennoch bezeichnete das Nazi-Regime 1933 Steinhardts Werk als „entartete Kunst“ (Blogbeitrag hierzu) und verbot es in der Öffentlichkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sein Werk jedoch wiederentdeckt und 1955 wurde er mit dem Israel-Preis für Kunst ausgezeichnet.
Heute befinden sich Steinhardts Werke in Sammlungen auf der ganzen Welt, darunter im Museum of Modern Art in New York, in der Albertina in Wien und im Jüdischen Museum in Berlin. Jakob Steinhardts Werk ist ein Zeugnis für die Kraft und Vision der expressionistischen Bewegung in Deutschland. Sein kühner Einsatz von Farbe, Linie und Form fängt die emotionale und psychologische Spannung der Zeit ein und trägt dazu bei, den Expressionismus als bedeutende künstlerische Bewegung in Deutschland zu etablieren. Steinhardts innovative Techniken und seine kraftvolle Bildsprache inspirieren auch heute noch Künstler/innen, und sein Vermächtnis bleibt ein wichtiger Teil des Kanons der Moderne.
Im Anhang sind die Links zu den im Text erwähnten Werken zu finden.
Quellen:
Barron, S. (2012). German Expressionism: Art and Society. Los Angeles County Museum of Art.
Rosenberg, L. (1998). Expressionism in Art. Dover Publications.
Zweenier, O. (2014). Die grafische Welt von Jakob Steinhardt. Yale University Press.
Bildquellen:
– „Straßenszene“ Gemälde von Jakob Steinhardt (1909) https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jakob_Steinhardt_Street_Scene_1909.jpg
– „Jerusalem Windows“ Mischtechnik von Jakob Steinhardt (1917-1922) https://www.jewishvirtuallibrary.org/jakob-steinhardt-jerusalem-windows
– „Biblische Legenden“ Holzschnittserie von Jakob Steinhardt (1919-1923),
https://www.moma.org/collection/works/32976.