Beschreibung der Situation

Als Sandra Michel am Montag nach dem langen Freiwochenende zum Dienst ins AWO-Heim Virchowstraße kommt, hat sie gleich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Schon vor der Übergabe reden alle hin und her: „Das geht doch gar nicht – stell dir doch mal vor, du willst hier in Ruhe deinen Lebensabend verbringen und dann das.“„Ja, und dann soll er noch in ein Doppelzimmer, weil sie mehr nicht bezahlen.“ – „Aber wo soll er den hin, auf die Straße kann er ja auch nicht zurück.“„Wohngruppe! Das ist auch wieder so ein moderner Schwachsinn.“ … Meinungen fliegen hin und her und Sandra kann sich noch gar keinen richtigen Reim darauf machen.

Während der Übergabe erfährt sie dann nähere Einzelheiten: Piet Carlson, 46 Jahre alt, war an einem Morgen zu Beginn der vergangenen Woche bewusstlos und völlig unterkühlt im Stadtpark von der Polizei aufgefunden worden. Mit dem sofort alarmierten Krankenwagen wurde der immer noch alkoholisierte und völlig verwahrloste Mann ins nahegelegene Krankenhaus gebracht, wo er erst am folgenden Tag wieder aus dem Koma erweckt werden konnte. Im Zuge der erfolgten Diagnosen wurde ein Diabetes mellitus (Typ II) in Folge einer nicht ausgeheilten Pankreatitis und je ein Dekubitus Grad 2 an der Ferse (3 cm Ø) und Grad 3 am Steiß (5 cm Ø) diagnostiziert. Der Diabetes wurde im Klinikum insulinpflichtig eingestellt und die Wunden bislang ohne großen Heilungserfolg versorgt. Offensichtlich hatte Herr Carlson einige Zeit bewusst- und bewegungslos im Park gelegen und inzwischen nicht unerhebliche Kontrakturen in den Beinen entwickelt, so dass er bis jetzt noch nicht wieder laufen konnte. Mit Hilfe der Sozialarbeiterin des Krankenhauses war der Heimplatz im AWO-Heim gefunden und Herr Carlson gestern Nachmittag gebracht worden – mit dem Auftrag, ihm wieder auf die Beine zu helfen, damit er später ggf. in eine betreute Wohngruppe aufgenommen werden könnte.

Petra aus der Frühschicht entschuldigt sich, dass sie bislang noch nicht zu einer gründlicheren Körperpflege gekommen wären: „Das ist doch etwas aufwändiger, vielleicht kommt ihr jetzt nach der Mittagspause dazu.“ Man einigt sich darauf, dass Sandra mit ihrer Praxisanleiterin Anke zusammenarbeiten sollte – „das geht besser, wenn ihr zu zweit seid, und da kann Sandra ja auch tüchtig was lernen.“

Sandra bereitet in Ankes Auftrag zunächst den Pflegewagen vor und geht dann etwas beklommen schon mal in das kleine Not-Einzelzimmer am Ende des Flurs, in dem Herr Carlson vorläufig behelfsmäßig untergebracht wurde. Schon als sie die Tür öffnet, schlägt ihr ein intensiver, eigenartiger Geruch entgegen. Auf dem Nachtschrank steht eine gefüllte Bettflasche, der neue Bewohner liegt in sich gekrümmt auf der Seite, hebt etwas den Kopf an, sein halblanges, graublondes Haar ist stark verfilzt; er hat einige verschorfte Stellen im Gesicht, einen ungepflegten 4-Tage Bart und sieht sehr verschwitzt aus. „Hej Deern, das isch‘a endlich mal‘n Lichtblick in dem Schuppen hier“, lächelt er sie etwas schief an. Sandra stellt sich betont munter vor, wie sie es gelernt hat, erklärt ihm, dass ihre Kollegin auch gleich kommt und sie ihn gemeinsam versorgen wollen. „Och“, nuschelt Piet Carlson durch seine wenigen Zähne hindurch, „Schon wida? Das war doch erst am Freidach im Krankenhaus, das ischa nu wärklich nich nödich. Wenn ihr die Arbeit einspoart, dann bleibt vielleich ja noch‘n ein büschen übrich und du kannst dem Onkel Piet endlich mal wida‘n Bierchen holen, du glaubs joa gor nech, was ich für’n Saufdruck hab.“