Name: Lucian Lengemann Ort: Bremer Hauptbahnhof Zeit: 12:37 – 13:25
Ich befinde mich im Bremer Bahnhof in der Nähe des Haupteingangs. Ich stehe im seitlichen Teil der Vorhalle an einem offenen Stehtisch der Bäckerei Le Crobag. Von diesem Platz aus kann ich in alle Richtungen das Treiben der Menschen beobachten. Das Zifferblatt der übergroßen runden Bahnhofsuhr unterhalb des Gewölbes an der lichtdurchfluteten Fensterfront gegenüber des Haupteingangs, zeigt 12:37 Uhr. Es ist Mittagszeit. Entsprechend der Bremer Winterferien ist es am Bahnhof heute sehr betriebsam. Viele Menschen bewegen sich unterschiedlich schnell in verschiedene Richtungen des Bahnhofs. Die meisten von ihnen tragen winterliche Kleidung und jeder einen Mundschutz. Viele Personen führen ein Gepäckstück mit sich. Besonders viele Menschen kommen, meist einzeln oder zu zweit, immer wieder nacheinander von Draußen aus dem Haupteingang und bewegen sich durch die Vorhalle in Richtung Bahnsteig und umgekehrt. Dadurch, dass sich in der Mitte der Vorhalle durch hohe Metallgitter abgegrenzte Sitzgelegenheiten befinden, bilden sich zwei Hauptwege, welche überwiegend in zwei verschiedene Richtungen genutzt werden. Die beiden Hauptwege führen vom Haupteingang durch die tageslichthelle Vorhalle und münden in den beiden Tunneln der neonbeleuchteten Geschäftsstraße in der Unterführung des Bahnhofs. In unmittelbarer Nähe vor mir befinden sich unter der hohen Deckwölbung, gut sichtbar, über den Eingängen der Tunnel, die wechselnden Anzeigen der Fahrgastinformation mit weißer Schrift auf blauem Hintergrund. Eine lautstarke Ansage ertönt durch die geräuschvolle Vorhalle: ,,Sehr verehrte Fahrgäste, der ICE Nummer 1397, der planmäßig auf Gleis 3 um 12:50 Uhr einfahren sollte, hat heute 30 Minuten Verspätung.’’
Um mich herum nehme ich die in bunten Neonfarben beleuchteten und beschrifteten Geschäfte wahr; ebenso wie die leuchtenden digitalen Werbeplakate. Ich kann beobachten, wie sich viele Menschen immer wieder einen Schnellimbiss kaufen und dafür in langen Schlangen stehend Wartezeiten in Kauf nehmen. Dabei ist auffällig, dass sie große Abstände zueinander halten. Als ich mich umdrehe, sehe ich drei Menschen unterschiedlichen Alters in der Schlange der Bäckerei Le Crobag stehen. Ich beobachte, wie gerade eine junge Frau in roter Wintermütze und schwarzer Daunenjacke ein Croissant und einen Kaffee im roten Pappbecher entgegennimmt. Nachdem sie über die Ladentheke Geld gegen die Ware eintauscht, kommt sie auf mich zu und setzt sich auf einen Hochstuhl an meinen Nebentisch und lässt ihren schwarzen Rucksack auf den Boden fallen. Sie nimmt einen Schluck Kaffee aus ihrem bedeckelten Pappbecher, stellt diesen auf den Tisch und holt ihr Handy aus der Jackentasche. Sie tippt eine Nachricht ein. Als die circa 30 Jahre alte Frau ihr Handy wieder in die Jackentasche steckt und weiter an ihrem Kaffee schlürft, spreche ich sie an: ,,Entschuldigung, darf ich Ihnen eine Frage stellen? Ich bin Student an der Uni Bremen undführe eine Beobachtungsstudie durch. Darf ich fragen, wo Sie hinfahren?’’ Die junge Frau, deren braunhaariger Pony aus der roten Wollmütze herausschaut, lächelt freundlich und antwortet: ,,Na klar! Ich fahre nach Kiel und besuche eine Freundin’’.
Ich bedanke mich und begebe mich geradewegs gegenüber von mir zu den Stellwänden mit den Fahrgastinformationen. Dort stelle ich mich neben einen jungen Mann, der gerade den Fahrplan auf einem gelben Plakat hinter einem Plexiglas Kasten studiert. Als ich näher komme, geht er weiter in Richtung Bahnsteig und zieht geräuschvoll seinen silbergrauen Koffer hinter sich her. Ich schaue hinter die Stellwände und setze mich in den offenen, abgetrennten Sitzbereich neben eine alte Dame auf eine kalte Metallbank. Im Wartebereich sind die meisten Plätze besetzt. Mir fällt auf, dass immer ein Platz zwischen den Leuten frei ist. Hier sitzen sieben Reisende mit warmen Winterjacken unterschiedlichen Alters und Nationalität mit ihrem Gepäck. Vier von ihnen beschäftigen sich mit ihrem Handy, die anderen drei sitzen bewegungslos da. Die Uhr zeigt inzwischen 13:20 Uhr. Nach weiteren fünf Minuten stehe ich auf, gehe zum Ausgang und verlasse durch den Hauptausgang die Bahnhofshalle, wo mir ein kalter Windzug entgegen strömt.
Während meiner Beobachtungsstudie konnte ich in verschiedenen Situationen feststellen, dass die Regeln der Schutzvorkehrungen der Corona Pandemie das gewohnte Verhalten der Menschen stark beeinflusst. Statt wie zu früheren Zeiten, in der Bahnhofshalle auch größere Gruppen anzutreffen, hielten sich die Menschen meist alleine oder in Zweier oder Dreier Gruppen auf. Offensichtlich handelte es sich meiner Beobachtung nach hierbei um Familien oder befreundete Personen. Auch hielten die Besucher Richtungswege und Abstandsregeln sowie die Maskenpflicht ein. Entgegen der üblichen Hektik in der Vorweihnachtszeit, empfand ich nun, trotz einer gewissen Betriebsamkeit am Bahnhof, eine deutliche Entschleunigung gegenüber der Vor- Corona-Zeit.
Lucian Lengemann
Hey Lucian,
Ich bin echt begeistert von deiner Beobachtung! Jetzt wo ich mal so richtig darüber nachdenke ist der Hauptbahnhof eigentlich ein super interessanter Ort. Wir denken kaum nach wenn wir da sind und nehmen die Geschehnisse die dort passieren zumeist gar nicht richtig war. Ich selbst erwische mich da auch immer bei, wie ich einfach nur mit meinen Kopfhörern durchlaufe und keinerlei Interaktion durchführe. Was die Corona Schutzvorkehrungen angeht kann ich dir auch nur zustimmen! Ich hatte in letzter Zeit ebenfalls das Gefühl, dass ich kaum noch Leute im und am Bahnhof angetroffen habe und alles irgendwie „ruhiger“ war als sonst. Aber um nochmal auf deine Beobachtung als solches zu kommen: Wirklich sehr schön geschrieben und mir gefällt es dass du soviele Details miteingebunden hast und auch die Leute befragt hattest. Weiter so!